Brief an meine Genossinnen und Genossen (25. Januar 2001)

Kurt Gossweiler
An meine Genossen

Brief an meine Genossinnen und Genossen
der Basisgruppe 702 der PDS Grünau

Der Schritt, den ich mit meiner Austrittserklärung vollziehe, kommt sehr spät. Gründe dafür, ihn schon viel früher zu unternehmen, hat es schon vom Sonderparteitag im Dezember 1989 an nicht wenige gegeben.

Ich war Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, weil ich Kommunist bin und die SED die Partei von Marx, Engels und Lenin, von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Ernst Thälmann, also die kommunistische Partei in der DDR, war.

Die PDS ist aus ihrem Sonderparteitag im Dezember 1989 als sozialistische, aber nicht-kommunistische, nicht-marxistische- nicht Weltanschauungs-Partei herausgegangen. Sie war deshalb nicht mehr “meine” Partei im gleichen Sinne wie es die SED war. Sie war in diesem Sinne “meine” Partei nur noch insofern, als die Basisgruppe noch meine alte WPO war mit den Genossinnen und Genossen, denen ich mich unverändert verbunden fühlte.

Es war zwar damals schon erkennbar, dass es wahrscheinlicher war, die PDS würde von der neuen Führung nach rechts gedrängt werden, als dass es den Mitgliedern gelingen könnte, durchzusetzen, dass die Partei wieder einen konsequent marxistischen Kurs steuert. Ein deutliches Zeichen dafür war es, als Modrow als Ministerpräsident der DDR die Abkehr vom Ziel, die DDR zu erhalten, mit seinem Ausspruch vom “Deutschland, einig Vaterland” offenbarte. Als aber nach der “friedlichen” Okkupation der DDR durch die BRD seitens der Bonner Regierung, der BRD-Justiz, der “Treuhand” und aller Parteien von CSU/CDU über SPD bis zu den Grünen eine Hetzjagd gegen die PDS losging mit dem Ziel, sie kaputt zu machen, da war es ein Gebot der Solidarität, die PDS zu unterstützen und sie trotz aller Bedenken nicht zu verlassen.

In diesen ersten Jahren waren es also vor allem zwei Motive, die mich in der PDS hielten: erstens die Verbundenheit mit Euch, den Genossinnen und Genossen meiner Basis-Gruppe, zweitens die Tatsache, dass die POS die einzige Oppositionspartei war, die von den Herrschenden ernst genommen, gehasst und verfolgt wurde. Aber bald folgte die Abkehr der Parteiführung von der erklärten System-Opposition und die Wendung hin zum Tolerierungs- und Regierungs-Drang. Und führende Genossen sprachen zwar viel von fairem Umgang miteinander, vom Pluralismus in der Partei und der Notwendigkeit, die innerparteiliche Demokratie zu wahren, aber wenn es darum ging, ihre Personal-Präferenzen und ihren Kurs gegen linke Kritiker durchzusetzen, scheuten sie vor grober Missachtung all der hehren Prinzipien nicht zurück; ich erinnere an Gysis : “Sie oder ich”, als es ihm bei der Vorstandswahl auf dem 4. Parteitag 1995 darum ging, die Vertreterin der Kommunistischen Plattform, Sahra Wagenknecht, nicht wieder in den Parteivorstand gelangen zu lassen. Und ich erinnere an das schlimme Hinter-den-Kulissen-Spiel, als auf einmal anstelle des Genossen Modrow André Brie auf Platz 1 der Männer-Kandidaten-Liste zur Europa-Wahl erschien.

Es war 1996 erstens André Brie mit seiner Forderung, mich aus der Partei auszuschließen, und es waren zweitens Ihr und all die anderen Genossen, die damals so heftig und erfolgreich gegen diesen in der PDS bis dahin beispiellosen Vorstoß zur “Disziplinierung” mittels Ausschluss unliebsamer Mitglieder auftraten, die mich dazu bewogen, trotz wachsender Unzufriedenheit mit der Politik der Führung die Partei nicht zu verlassen. Ich wollte zum einen nicht der von André Brie verkündeten Strategie zum Erfolg verhelfen; hatte er doch empfohlen, man müsse die Atmosphäre in der PDS für die Genossen, die er gerne aus der Partei herausgedrängt gesehen hätte, so unerträglich machen, dass sie von selber gehen. Und zum anderen wollte ich mich nicht von denen trennen, die sich mir gegenüber so solidarisch gezeigt hatten.

Aber die Frage, ob mein Verbleiben in der PDS mit meinen Überzeugungen noch vereinbar sei, drängte sich mir immer öfter und immer nachdrücklicher auf, je einseitiger die Beschäftigung der Parteiführung mit der DDR auf “schärfste Abrechnung” hinzielte, und je mehr demokratische und sogar sozialistische Schönheiten und Vorzüge der imperialistischen Bundesrepublik von führenden Genossen der PDS entdeckt und gepriesen wurden.

Aber es kam ja noch schlimmer. Das nicht nur von allen Genossen, sondern von einem sehr großen Teil der Bevölkerung der ganzen Bundesrepublik freudig begrüßte “Nein” der PDS zum NATO-Uberfall auf Jugoslawien hatte ihr großes Vertrauen als der einzigen zuverlässigen und konsequenten Anti-Kriegs-Partei im Bundestag eingebracht. Das wurde aber erheblich in Frage gestellt erstens durch Gysis Forderung nach Zustimmung des Münster-Parteitages zur Einzelfall-Prüfung bei NATO-Militär-Aktionen, zweitens durch den Verbleib der PDS in der Koalitionsregierung in Mecklenburg-Vorpommern mit der Kriegspartei SPD. Hinzu kam eine weitere Inkonsequenz. die den Verdacht nährt, eine PDS in der Regierung werde sich zu ihren Beschlüssen und Wahlversprechungen nicht anders verhalten, als es die Grünen in der Schröder-Regierung tun. Auf dem Cottbusser Parteitag versicherte Gabi Zimmer, die PDS werde sich verweigern, “wenn es um Sozialabbau geht.” Aber in Mecklenburg-Vorpommern hat die PDS für Schröders Steuerreform gestimmt, obwohl von Partei und Gabi Zimmer persönlich diese so genannte “Reform” als unsozial und ungerecht bezeichnet worden war.

Und noch ein letztes Beispiel: Als sich im Sommer vorigen Jahres urplötzlich die Unternehmerverbände und ihre Schröder-Regierung als Antifaschisten aufspielten, stimmten alle Medien wie auf einen geheimen Wink das Lied von der DDR als Keimzelle des Neo-Nazismus an. Und kein anderer als André Brie stimmte mit einem Interview in der Berliner Zeitung vom 7. August in diesen Lügenchor mit ein. Die DDR, so ließ er sich vernehmen, sei “ein Law-and- Order-Staat” gewesen, und das sei für Neo-Nazis bis heute ein Anknüpfungspunkt. Und er fuhr fort: “Die kommunistische Bewegung hat spätestens mit ihrer Stalinisierung Demokratie und Emanzipation abgelegt.” (Dies darf ein Führungs-Mitglied der PDS sagen, das genau weiß, dass ganz Europa seine Befreiung vom Faschismus in erster Linie der von Stalin geführten Sowjetunion und den von Kommunisten geführten Befreiungsbewegungen in den vom Faschismus okkupierten Ländern verdankt – ohne dass es dafür wegen bösartiger Verleumdung der Kämpfer gegen den Faschismus aller seiner Funktionen enthoben wird!) Aber damit noch keineswegs genug; André Brie fährt fort: “Sie (die kommunistische Bewegung) hat schon vor 1933 Konzepte verfolgt, der gleiche Denkweisen und ähnliche Symbole wie der NS-Bewegung zugrunde lagen. … Autoritätshörigkeit, Hierarchiedenken und Harmoniesucht der Ostdeutschen (also auch von uns, liebe Genossen! K.G.) sind ein Nährboden für Neonazis.” Ist es übertrieben zu sagen: ´Das hätte kein antikommunistischer Hetzer aus den Reihen der CDU giftiger hinbekommen!´? Der Spitzenvertreter der PDS im Europa-Parlament durfte unwidersprochen in der Berliner Zeitung die alte Verleumdung “Rot gleich Braun” als PDS-Ansicht verbreiten!

So unerfreulich all dies auch ist – es fehlt nicht an Leuten, die mit dieser Entwicklung der PDS sehr zufrieden sind und ihr dafür ins Zeugnis ein “Sehr gut!” schreiben.

Der sozialdemokratische Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Höppner, lobte die PDS auf einer Veranstaltung der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung in Genshagen im Sommer 1996 dafür, dass sie “in erheblichem Maße dazu beigetragen habe, dass die ´alte Elite´ (der DDR) in gesellschaftliche Prozesse eingebunden wurde und nicht als revolutionärer Sprengstoff wirkte.” (N.D. v.3.6.1996) Und ganz ähnlich auch der CDU-Professor Werner Patzelt in seiner Rede “Zehn Jahre PDS” auf der Festveranstaltung der Dresdner PDS im Rathaus im Februar 2000; er führte dort u.a. aus: “Die PDS schaffte es, jene in die BRD zu begleiten und in sie zu integrieren, die eigentlich nie in die BRD und in ihre politischen und wirtschaftlichen Wertstrukturen hineingehören wollten.” Und er beschreibt die staatstragende Funktion der PDS wie folgt: “Bei alledem muss die PDS gesprächs- und integrationsfähig hin zum äußersten linken Rand des politischen Spektrums bleiben. Sie muss auf der linken Seite das leisten, was insbesondere die CDU am rechten Rand des politischen Spektrums vollbringt: Sie selbst muss eine zweifelsfrei und ohne Wenn und Aber innerhalb des Verfassungsbogens stehende Partei sein; links von ihr darf für keine auf demokratische Legitimität sich stützende Partei Platz sein; und in ihr muss die Spannung zwischen fast schon Radikalen und denen, die fast schon die Union mögen, ausgehalten und immer wieder integriert werden.” (N.D. v.5.5.2000). Ohne professorale Schnörkel heißt das: Die Aufgabe der PDS besteht darin, zu verhindern, dass es in Deutschland noch einmal eine den revolutionären Theorien von Marx, Engels, Liebknecht und Luxemburg folgende kommunistische Massenpartei gibt.

Das bockige Sträuben des Parteivorstandes der PDS gegen gemeinsame Wahlabkommen mit der DKP entspricht sehr wohl dieser Aufgabenstellung des Herrn Professor Patzelt, in keiner Weise aber der Notwendigkeit, die Linke durch Bündelung der Kräfte zu stärken.

Liebe Genossinnen und Genossen, ich habe nur einige wenige Beispiele angeführt, die es mir schon länger schwer machten, nicht zu sagen: diesen Kurs kann ich nicht mehr mittragen! Wenn ich daraus nun die Konsequenz ziehe und nicht länger Mitglied der PDS bleibe, dann ändert das nichts daran, dass ich mich nach wie vor mit Euch, mit den Genossinnen und Genossen der Parteigruppe, der ich noch aus DDR-Zeiten angehöre, auch als Parteiloser solidarisch verbunden fühle und Ihr auf meine Unterstützung rechnen könnt, wenn es darum geht, dafür einzutreten, dass Rot die stärkste Farbe im politischen Spektrum in Grünau und im neuen Bezirk Treptow-Köpenick bleibt.

Kurt Gossweiler, Berlin, den 25. Januar 2001

Wilfriede Otto, Sowjetische Deutschlandnote 1952. Stalin und die DDR. in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG), Heft 3/1991, S. 374 ff. Dieselbe, Order aus Moskau ignoriert, Eigeninitiative bewiesen. In: Neues Deutschland (ND), v. 11./12. 5. 1991. Dieselbe, Antwort auf Bonner Ambitionen und Stalins Pokerspiel. In:ND v. 11./12. 7. 1992. Mit ihrer Version befindet sich W. Otto übrigens in den Fußstapfen von D. Staritz, Geschichte der DDR 1949-1985, Frankfurt a. Main 1985, S. 73 ff. – Zur Kritik an der Version W. Ottos s. a. Kurt Gossweiler, Hintergründe des 17. Juni 1953. In: Marxistische Blätter, 3/93, S. 77. – Zur oben genannten Version siehe ferner Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte. Berlin 1994, und Norbert Podewin, Walter Ulbricht. Eine neue Biographie, Berlin 1995. Zu Podewins Ulbricht-Biographie s. die Rezension von Sahra Wagenknecht, Hatte die DDR eine Chance? In: Konkret 3/96, S. 30 ff.

Für Frieden und Volksdemokratie. Bericht über die Tätigkeit einiger kommunistischer Parteien, gehalten auf der Konferenz in Polen Ende September 1947. Verlag Tägliche Rundschau, Berlin, Seite 25.

J. Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin 1952, Seite 31.

G. M. Malenkow, Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU(B) an den XIX. Parteitag, Berlin 1952, Seite 9.

J. Stalin, Rede auf dem XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 14. Oktober 1952, Berlin 1952, Seite 13.

Der Fall Berija. Protokoll einer Abrechnung. Das Plenum des ZK der KPdSU Juli 1953. Stenographischer Bericht, Hgg. und a. d. Russ. übersetzt von Viktor Knoll und Lothar Kölm, Berlin 1993, Seite 80. Der Molotow von B. B. zugeschriebene Satz findet sich an keiner Stelle der Rede Molotows.

Vgl. dazu meine Ausführungen zum “Fall Berija” im Brief an Sahra Wagenknecht in Nummer 21 des Streitbaren Materialismus.

J. Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus, in: Stalin, Werke, Band 6, Seite 124.

Die folgenden Daten sind einer Chronik mit dem Titel entnommen: Alliierter Kontrollrat und Außenministerkonferenzen. Aus der Praxis der Deutschlandpolitik der vier Mächte seit 1945, hgg. von Karl Bittel, Berlin 1959, Seite 181 f.

W. Otto, Sowjetische Deutschlandnote, BzG 3/1991. Die Originalakten liegen im Bestand des ehemaligen Zentralen Parteiarchivs der SED, das jetzt als Bestand “Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR” (SAPMO B Arch) vom Bundesarchiv übernommen wurde. Signatur der Originalakten: ZPA NL 36/696.

W. Otto, BzG 3)1991, Seite 378.

Mit ihrem “Nein” zum sowjetischen Vorschlag in ihrer Antwort-Note vom 25. März 1952 schrieben die Westmächte daher nicht nur die Aufrechterhaltung der Spaltung Deutschlands fest, sondern entschieden damit zugleich über den weiteren Weg der DDR zum Aufbau des Sozialismus.

Ebenda, Seite 389.

Ebenda.

Ebenda, Seite 378.