Kurt Gossweiler
SOZIALISMUS UND “REALSOZIALISMUS”
Der Begriff “realer Sozialismus” oder genauer “real existierender Sozialismus” ist ja eine verhältnismäßig späte Wortprägung. Sie wurde nach meiner Erinnerung zuerst in der DDR und erst in den 70er Jahren benutzt, von den anderen sozialistischen Ländern dagegen, wenn überhaupt, nur zögernd übernommen.
Woher kam das Bedürfnis, dem Begriff des Sozialismus ein seinem Wesen nach einschränkendes, ge-wissermaßen entschuldigendes Adjektiv beizufügen? Diese Beifügung ergab sich daraus, dass die Nichtübereinstimmung von Ideal und Wirklichkeit immer deutlicher sichtbar und spürbar geworden war und einer Erklärung bedurfte. Eine wirkliche Erklärung wurde nicht gegeben und konnte wohl auch nicht gegeben werden. Statt dessen wurde, durchaus zutreffend, darauf hingewiesen, dass es zwar schon viele Verheißungen – z.B. von der Sozialdemokratie -gegeben habe, einen Weg zur Errichtung einer sozialis-tischen Gesellschaft zu gehen, dass aber nur in den sozialistischen Ländern wirklich ein Weg beschritten wurde, der die Macht des Kapitals brach und zum Aufbau einer neuen, auf dem gesellschaftlichen Ei-gentum an Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnung führte. Wenngleich nicht vollkommen, so sei dieser Sozialismus doch der erste und bisher einzige real existierende Sozialismus.
Die Wortschöpfung vom Realsozialismus war also Ausdruck der Einsicht und des Eingeständnisses, nicht alle Erwartungen erfüllt zu haben, die man selbst gehegt und verbreitet hatte.
Etwa zeitgleich mit dem Aufkommen dieser neuen Wortschöpfung tauchte bei den Fragen, die uns von Schülern gestellt wurden, wenn wir in Schulklassen über unsere Erfahrungen im antifaschistischen Wi-derstand berichteten, ziemlich regelmäßig eine neue Frage auf, nämlich: “Haben Sie sich den Sozialismus damals so vorgestellt, wie er jetzt ist?” Diese Frage und die Wortschöpfung “Realsozialismus” hatten den gleichen Ursprung: Die beunruhigende wachsende Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit.
Es muss also untersucht werden, ob die führenden Parteien in den sozialistischen Ländern marxistische Parteien im Sinne des wissenschaftlichen Sozialismus geblieben sind. Vor allem die KPdSU, die 1917 die sozialistische Revolution als solche zum Siege geführt hat.
Obwohl gründliche Untersuchungen zu dieser Frage noch ausstehen, kann doch schon so viel festgestellt werden: Die Partei Lenins ist angetreten als Partei des entschiedenen unversöhnlichen Kampfes gegen den Imperialismus, als Partei der entschlossenen Verteidigung des ersten sozialistischen Staates der Welt gegen jegliche Form imperialistischer Versuche seiner Liquidierung. Diese Partei, zur Partei Gorbatschows geworden, endete als eine Partei, deren führende Figuren ohne Schwierigkeiten die Metamorphose aus Führern einer sich nochkommunistisch nennenden Partei in Führer antikommunistischer, pro-imperialistischer Parteien (oder in Kolumnisten imperialistischer Presseorgane) vollzogen.
Man stelle sich nur einmal die Frage, ob man eine derartige Wandlung auch bei Lenin (oder z.B. bei Georgi Dimitroff, Maurice Thorez, Palmiro Togliatti, Ernst Thälmann, Wilhelm Pieck oder Walter Ulbricht, um nur diese Namen zu nennen) für möglich gehalten hätte, um zu erkennen, dass die KPdSU Gorbatschows mit der Partei Lenins im Kern nichts mehr zu tun hatte, nichts mehr auch mit der Lehre von Marx und Engels. Haben diese beiden sich doch – in dem berühmten “Zirkularbrief vom 17./18.September 1879 an August Bebel, Wilhelm Liebknecht und andere – in der schärfsten Form gegen das so genannte “Züricher Dreigestirn” (Eduard Bernstein, Karl Höchberg und Karl August Schramm, in gewissem Sinne frühe Vorläufer der Gorbatschow/Schewardnadse) gewandt: “Gerät aber solchen Leuten gar die Parteileitung mehr oder weniger in die Hand, so wird die Partei einfach entmannt … Wir können also unmöglich mit Leuten zusammengehen, die diesen Klassenkampf aus der Bewegung streichen wollen.” (MEW Bd.34, S.407)
Was also ist in und mit der kommunistischen Bewegung passiert? “Passiert” ist mit ihr etwas Ähnliches wie um die Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert mit der alten Sozialdemokratie. Die führende Partei der kommunistischen Bewegung entwickelte sich aus einer Partei des unversöhnlichen Kampfes (was nicht verwechselt werden darf mit Unfähigkeit zu notwendigen Kompromissen) gegen den Imperialismus in eine Partei des unversöhnlichen Kampfes gegen die eigene revolutionäre Vergangenheit bei gleichzeitiger Versöhnung mit dem und Unterwerfung unter den Imperialismus.
Der Beginn dieser Verwandlung liegt nicht im Jahre 1985, sondern schon 30 Jahre früher. Rückblickend zeigt sich, dass es viel mehr als eine “zeitgemäße Programmänderung” bedeutete, als verkündet wurde, die Partei sei nicht länger die Partei einer Klasse, der Arbeiterklasse, sondern eine “Volkspartei”, und der Staat nicht länger eine Diktatur des Proletariats, sondern ein “Volksstaat”. Wie wenig stichhaltig die dazu gegebenen “theoretischen” Begründungen waren, hat die weitere Entwicklung zur Genüge erwiesen. Sie waren in Wahrheit nur die Vertuschung dessen, was wirklich vor sich ging – die Verabschiedung vom Marxismus-Leninismus.
Wenn die Umwandlung der Partei sich über Jahrzehnte hinzog, dann deshalb, weil in der Parteiführung, noch mehr aber in der Parteimitgliedschaft, die Traditionen und die Ideen des Leninismus so tief ver-wurzelt waren, dass sie erst völlig über Bord geworfen werden konnten, nachdem neue Generationen herangewachsen waren, die vom Sozialismus nur dessen Abstiegsphase mit all ihren Widerwärtigkeiten und abstoßenden Zügen kennen gelernt hatten, also die Ergebnisse der Tätigkeit einer nur noch äußerlich einheitlich auftretenden, innerlich tief gespaltenen und daher zu positiver Gesellschaftskritik unfähig gewordenen Parteiführung.
Wenn dem so ist, dann kann von einem plötzlichen Zusammenbruch des Sozialismus nicht die Rede sein; der Zusammenbruch ist dann nur das Endstadium eines jahrzehntelangen Prozesses der Denaturierung des Sozialismus, der Aushöhlung seiner wesentlichen Substanz und der Erosion seiner Basis in der Bevöl-kerung.
Dann ist ferner das Erstaunliche nicht, dass der Sozialismus zusammenbrach, sondern dass er erst so spät zusammenbrach, dass er so lange den zweifachen Angriffen auf seine Lebenskraft standhielt – dem des Imperialismus von außen und dem der antileninistischen, ihrem Wesen nach revisionistischen Kräfte im Inneren.
Aufgrund dieser meiner Sicht der Dinge neige ich dazu, mit Realsozialismus nur eine bestimmte Phase des Sozialismus zu bezeichnen, nämlich jene Abstiegsphase, in der sich – als Folge des Abweichens vom “Weg von 1917” – zwischen Wirklichkeit und Ideal oder besser gesagt, zwischen dem real Erreichten einerseits, dem Erwarteten und bei normaler Entwicklung auch erreichbar Gewesenen andererseits, eine immer größere Kluft auftat. Der “reale Sozialismus” war dann eben nicht “der reale Weg, dem gesellschaftlichen Fortschritt Bahn zu brechen”, sondern bereits ein Ergebnis des Abirrens von diesem Weg.
Wenn jemand heute solche Ansichten äußert, dann ist ihm die alsbaldige Brandmarkung als “Stalinist” gewiss. Aber es geht in Wahrheit nicht um Stalin und “Stalinismus” – es geht um Lenin und den Leni-nismus, darum, sie nicht mit einer historischen Schuld und mit einem historischen Versagen zu belasten, die nicht auf ihr Konto kommen.
Auszug aus Abchnitt VI “Sozialismus und ‚Realsozialismus’” des Aufsatzes “Revolution und Konterrevolution in Deutschland – Einige Bemerkungen zu den Hypothesen von Rainer Eckert”, geschrieben Frühjahr 1992, erschienen in “Weißenseer Blätter”, Jahrgang 1992, Heft 2 , S. 27-31