Kurt Gossweiler
WESHALB EINE BEREITS ERREICHTE
ÖKONOMISCHE ÜBERLEGENHEIT DES
SOZIALISMUS NICHT GEHALTEN WERDEN KONNTE.
Ein paar Bemerkungen zum Artikel von Heinz Wachowitz “Warum erreichten wir keine ökonomische Überlegenheit?”.
Da sich diese Frage nicht nur auf die DDR, sondern auch auf die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten bezieht, ist sie meine ich, falsch gestellt.
Die Sowjetunion wäre niemals vom 1917 innegehabten weit hinteren Platz auf den zweiten Platz der Weltrangliste vorgerückt, wenn ihr Wirtschaftssystem nicht selbst dem der führenden kapitalistischen Länder überlegen gewesen wäre. Und in den ersten zehn Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die sozialistischen Länder Ungarn, Bulgarien und Rumänien im Tempo des Überwindung der Kriegsschäden und der Entwicklung ihrer Wirtschaft ihrem kapitalistischen Nachbarn Griechenland z.B. deutlich überlegen. Man kann also nicht für die gesamte Zeit der Existenz des Sozialismus in der SU und in Europa davon sprechen, dass er ökonomisch unterlegen gewesen sei. Er war jahrzehntelang überlegen in bezug auf Wachs-tumstempo und Produktivitätssteigerung.
Der zweite Einwand betrifft die gegebene Antwort. Sie bleibt nämlich weit hinter den Er-kenntnissen zurück, die in der “RotFuchs”-Gemeinde Allgemeingut sind oder es zumindest einmal waren.
Genosse Wachowitz stellt richtig fest, dass die UdSSR in bezug auf die wissenschaft-lich-technische Revolution hinter den entwickelten kapitalistischen Ländern zurückblieb, und dass sich das ökonomische Wachstum “schon seit den 50er Jahren” verlangsamte und das Entwicklungstempo immer mehr hinter dem der fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern zurücklag.
Die Erklärung, die er dafür gibt, sind aber unbefriedigend; sie decken sich weitgehend mit den in der PDS üblichen Denkmustern zum “unvermeidlichen Versagen der Kommandowirtschaft des Staatssozialismus”, lassen aber die entscheidende Ursache unerwähnt: das Abgehen unter Chruschtschow von einer wissenschaftlich begründeten Planung der Wirtschaft und deren Ersetzung durch eine sprunghafte “Planung” mit irrealen, voluntaristischen Zielsetzungen. Sie lauteten z.B.: In kürzester Zeit müsse der Verbrauch an Konsumgütern den Stand der entwi-ckelten kapitalistischen Länder erreichen; bis 1970 würden die USA eingeholt und bis 1980 der Kommunismus in der Sowjetunion erreicht sein. Ferner wurde die Notwendigkeit missachtet, in der Planung dem Wachstum der Abteilung I (Produktionsmittel) den Vorrang vor dem Wachstum der Abteilung II (Konsumgüter) zu sichern. Hinzu kamen der willkürliche, desor-ganisierende Abbruch eines Fünfjahresplanes und der Übergang zu einem Siebenjahresplan sowie die bewusste Sabotage der Einführung der wissenschaftlich-technischen Revolution in den nicht-militärischen Produktionsbereich, wie sie sich in der schroffen Ablehnung des in der DDR unter Walter Ulbricht konzipierten Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Wirtschaft durch Breschnew manifestierte. Heinz Wachowitz schreibt, auch die Zusammenarbeit im RGW habe sich “als wenig wirksam” erwiesen. Aber wiederum fehlt ein Hinweis auf die Ursachen dafür. Ein ganz wesentlicher Grund lag darin, dass alle Vorschläge, die vor allem auch von den Vertretern der DDR gemacht wurden, den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe aus einem Organ, das unverbindliche Empfehlungen ausspricht, zu einem Planungs- und Leitungsorgan auszugestalten, dessen Beschlüsse verbindlich für alle Mitglieder sind, von sowjetischer Seite abgewiesen wurden; denn sie widersprachen dem “nationalkom-munistischen” Grundsatz, der in der von Tito und Chruschtschow 1955 unterzeichneten Bel-grader Deklaration niedergelegt war, wonach die Frage der “konkreten Formen der Entwick-lung des Sozialismus” ausschließlich Sache jedes einzelnen sozialistischen Landes zu sein hatte. Ohne alle diese Fakten zu erkenn und zu berücksichtigen, kann es keine der geschichtlichen Wirklichkeit entsprechende Antwort auf die Frage geben, weshalb wir eine bereits erreichte ökonomische Überlegenheit nicht nur nicht halten konnten, sondern sie sogar wieder verloren haben.
Leserbrief erschienen in RotFuchs Oktober 2004