John Maynard Keynes Ein Ratgeber für uns und unsere Probleme? (2. Hälfte 1996)

Kurt Gossweiler

JOHN MAYNARD KEYNES –
EIN RATGEBER FÜR UNS UND UNSERE PROBLEME?

Zum 50. Todestag des bürgerlichen Ökonomen John Maynard Keynes brachte das “Neue Deutschland” am 18. April 1996 einen Gedenkartikel aus der Feder Joachim Bischoffs, der mich arg ins Grübeln brachte, weil ich bei Bischoff so gut wie nichts fand von dem Keynes, der mir bekannt ist, dafür aber eine Auswahl von Keynes-Zitaten, nach denen zu urteilen kaum etwas dagegen spräche, ihn zu einem Vordenker des demokratischen Sozialismus zu ernennen. Wir lesen da zum Beispiel:

“Der Übergang von wirtschaftlicher Gesetzlosigkeit zu einer Ordnung, die bewusst auf eine Überwachung und Lenkung der wirtschaftlichen Kräfte im Sinne gesellschaftlicher Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Gleichgewichts abzielt, wird ungeheure Schwierigkeiten darbieten”, aber ihre Lösung müsse gesucht werden. Bischoff zitiert Keynes weiter: “Die hervorstechenden Fehler der wirtschaftlichen Gesellschaft, in der wir leben, sind ihr Versagen, für Vollbeschäftigung Vorkehrungen zu treffen, und ihre willkürliche und unbillige Verteilung des Reichtums und der Einkommen”. Bischoff fährt fort: “Keynes wusste, dass auf lange Sicht nur die Abschwächung der großen Vermögensunterschiede und die Beseitigung des Rentiers, der allein von der Verzinsung seines Vermögens lebt, die Deformationen der modernen kapitalistischen Gesellschaft auf-heben können. … Keynes … hat versucht, die Ansätze zu einer sozial orientierten und auf interna-tionale Kooperation angelegten alternativen Politik theoretisch zu untermauern und das wirtschafts- und finanzpolitische Instrumentarium dadurch treffsicherer zu machen.”

Nun, es gibt ja nicht wenige bürgerliche Ökonomen, Publizisten und Politiker, über deren wohl-meinende Absichten Ähnliches gesagt werden könnte. Aber für den Leser noch wichtiger als die Vorführung solch menschenfreundlicher Ansichten wäre eine Information darüber, auf welchem Wege der Betreffende seine philanthropischen Ziele erreichen wollte und wie diese Vorstellungen vom sozialistischen – gegebenenfalls marxistischen – Standpunkt aus zu beurteilen sind. Eine solche Information fehlt leider in dem Artikel fast völlig. Dafür lässt Bischoff aber erkennen, dass er das von Keynes vorgeschlagene Konzept für geeignet hält, die von diesem anvisierten Ziele zu erreichen. Das wird schon in der Artikel-Überschrift zum Ausdruck gebracht, lautet sie doch: “Die Politik lernte die Lektion nicht”, womit gesagt sein sollte, dass die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik Deutschland um vieles besser sein würde, wären die Politiker dabei geblieben, den “in der Weltwirtschaftskrise und der Nachkriegsentwicklung so erfolgreichen Konzepten zur Glättung und Steuerung der Konjunkturzyklen und zur Regulierung der Weltwirt-schafts(un)ordnung” zu folgen.

In der gleichen Absicht, uns vorzuführen, welch progressiver Denker dieser J. M. Keynes war, gibt Bischoff den Inhalt eines Briefes wieder, in dem Keynes im Dezember 1933 den US-Präsidenten Roosevelt ermuntert hatte, “sich von seinem Versuch zur Stabilisierung der Binnennachfrage in den USA nicht abbringen (zu) lassen und angesichts der dramatischen Situation den massiven Anstieg der kreditfinanzierten Ausgaben als notwendiges Übel in Kauf (zu) nehmen,” was Roosevelt bekanntlich ja auch tat – wofür er von Bischoff in seinem Artikel die Note: “ein überaus erfolgreiches Unterfangen” bekommt. Kein Zweifel also, dass Bischoff in der Befolgung der Keynes’schen Konzepte einen “überaus erfolgreichen” Weg sieht, die heute wiederum zu einem Hauptproblem gewordene Massenarbeitslosigkeit zu überwinden.

Das ist allerdings ganz erstaunlich, denn bei genauem Hinsehen kann nicht verborgen bleiben, dass die heutigen Wirtschaftsprobleme in den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern die unaus-weichliche Konsequenz jahrzehntelanger keynesianischer Wirtschaftspolitik darstellen.

Keynes, geboren 1883, wurde am bekanntesten durch sein – in Deutschland 1936 erschienenes – Hauptwerk “Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes”, das als Grund-legung des “Keynesianismus” angesehen wird.

Keynes war aber keineswegs nur ein Wirtschaftstheoretiker, sondern schon seit 1906, als er seinen Dienst im britischen Indien-Ministerium aufnahm, ein Wirtschaftspolitiker im Dienste des briti-schen Imperialismus, wofür er 1942 in zweifacher Weise ausgezeichnet wurde – erstens durch seine Aufnahme in das Direktorium der damals noch als Weltfinanzzentrum Nr. 1 geltenden Bank von England, zweitens durch seine Aufnahme in das britische Oberhaus, was mit der Erhebung in den Adelsstand verbunden war Er kann mit Fug und Recht als der Schöpfer des britischen Kriegsfinanzsystems im Zweiten Weltkrieg bezeichnet werden.

Den Anstoß für seine “Theorie der Beschäftigung” erhielt Keynes in den Jahren der Weltwirt-schaftskrise von 1929-1933. Es war gar nicht zu übersehen, dass die offizielle staatliche Wirt-schaftspolitik diese Krise verlängerte und vertiefte, indem sie die staatlichen Ausgaben drastisch reduzierte und eine Politik brutalen Lohnabbaus und der Kürzung aller Sozialausgaben betrieb mit der Begründung, dies alles sei erforderlich, um den Staatshaushalt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Das Hauptmotiv für diese Politik war aber nicht der Haushaltsausgleich, sondern das brennende Verlangen des Monopolkapitals, die Krise zur “Reinigung” von all dem “sozialen Klimbim” zu benutzen, von all den Zugeständnissen, die es seit 1918 den Arbeitern hatte einräumen müssen. Die Furcht vor der Arbeitslosigkeit sollte dazu ausgenutzt werden, die Löhne so tief wie möglich zu drücken und sie in einer künftigen neuen Aufschwungphase nach Möglichkeit auf diesem niedrigen Niveau zu halten.

Darum stießen Vorschläge, die damals von zahlreichen Ökonomen und auch von Unternehmern kamen, zunächst bei den Regierenden in Deutschland auf taube Ohren, nämlich der Rat, statt eine restriktive, die Krise noch verschärfende Wirtschaftspolitik weiter zu betreiben, doch zu einer bewusst anti-zyklischen Wirtschaftspolitik umzusteuern, die in Zeiten der Krise die staatlichen Ausgaben nicht drosselt, sondern sie zugunsten von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erhöht, um auf diese Weise die Voraussetzungen für eine Trendwende und einen neuen Konjunkturauf-schwung zu schaffen. Aber erst als durch die Errichtung der faschistischen Diktatur die Gewähr dafür gegeben war, dass die Arbeiterschaft aller Möglichkeiten beraubt war, in der kommenden Rüstungskonjunktur etwa durch Arbeitskämpfe ihre in den Krisenjahren verloren gegangenen Standards wieder zurückzuerobern, war das deutsche Monopolkapital bereit, sich auf die Wirt-schaftspolitik des “deficit spending”, auf eine Politik massiver staatlicher “Arbeitsbeschaffung”, finanziert durch uferlose Staatsverschuldung, einzulassen. Über die Gefahren einer solchen Schuldenpolitik machten sich ihre Autoren, wie Hjalmar Schacht, und die Naziführung keine Sorgen: Bezahlen würden alle Kosten – wie nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 – die Be-siegten, diesmal die Völker Europas.

Eine Politik der Finanzierung öffentlicher Aufträge durch Verschuldung des Staates hatte inzwi-schen das Markenzeichen des “Keynesianismus” erhalten, weil Keynes, wie schon erwähnt, sich darum bemüht hatte, den theoretischen Nachweis für das problemlose Funktionieren einer solchen Politik staatlich geregelter Vollbeschäftigung zu erbringen.

Eine Theorie, die um den Nachweis bemüht ist, dass kapitalistische Wirtschaft frei von Krisen betrieben werden könne, muß natürlich implizit eine antimarxistische Theorie sein. Das war sie aber auch nach der ganz bewussten und ausgesprochenen Intention von Keynes. Noch während der Arbeit an seiner “Allgemeinen Theorie” schrieb er an einen Bekannten, sein Buch werde “die Ansichten der Welt über wirtschaftliche Probleme weitgehend revolutionieren. … Es wird sich vieles ändern, vor allem werden die Ricardoschen Fundamente des Marxismus hinweggefegt werden.” (1)
Aufschlussreich für Keynes’ Verhältnis zum faschistischen Deutschland ist auch eine Passage in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner “Allgemeinen Theorie”, geschrieben im September 1936. Keynes schrieb, er hoffe, die deutschen Ökonomen davon überzeugen zu können, dass er mit seiner Methode einen wichtigen Beitrag zur Formung einer zeitgenössischen Politik leiste, und fügte dem hinzu, die “Theorie der Produktion als Ganzes”, die den Zweck seines Buches bilde, könne “viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepasst werden, als die Theorie des ‘laissez-faire'” (2) . Keynes selbst bestätigt also, dass die von ihm empfohlene Wirtschaftspolitik auch mit dem Faschismus kompatibel ist. In der Tat ist die von Bischoff mit so viel Sympathie bedachte “Politik der kreditfinanzierten öffentlichen Ausgaben” in keinem Land der Erde vor 1945 so extensiv betrieben worden wie im faschistischen Deutschland.

Der DDR-Ökonom Karl Heinz Schwank hat deshalb in seiner Schrift “Lord Keynes Theorie weder revolutionär noch wissenschaftlich” 1961 durchaus zutreffend bemerkt: “Der so genannte Neue Plan der deutschen Faschisten, der unter der hervorragenden Anteilnahme Schachts entstanden war und der nach seinem Eingeständnis so viel zur ‘Durchführung der Aufrüstung … beigetragen hat’, beinhaltet praktisch die Gedanken, die Keynes rechtfertigt.” (3)

Keynes selbst hat den Grundgedanken seiner “Theorie der Beschäftigung” an einem berühmt gewordenen ausgedachten Beispiel bildhaft dargestellt, als er schrieb: “Wenn das Schatzamt alte Flaschen mit Banknoten füllen und sie in geeigneten Tiefen in verlassenen Kohlebergwerken vergraben würde, sie dann bis zur Oberfläche mit städtischem Kehricht füllen würde und es dem privaten Unternehmergeist nach den erprobten Grundsätzen des laissez-faire überlassen würde, die Noten wieder auszugraben (wobei das Recht, also zu tun, natürlich durch Offerten für die Pacht des Grundstücks, in dem die Noten liegen, zu erwerben wäre), brauchte es keine Arbeitslosigkeit mehr zu geben, und mit Hilfe der Rückwirkungen würde das Realeinkommen des Gemeinwesens wie auch sein Kapitalreichtum wahrscheinlich viel größer als jetzt werden. Es wäre zwar viel ver-nünftiger, Häuser und dergleichen zu bauen, aber wenn dem politische und praktische Schwie-rigkeiten im Wege stehen, wäre das obigen besser als gar nichts.” (4)

Ein anderer DDR-Ökonom, Herbert Meissner, beschrieb diese Keynes’schen Gedanken wie folgt: “Da die Steigerung der effektiven Gesamtnachfrage der Kernpunkt des Keynesianismus ist, laufen seine wirtschaftspolitischen Vorschläge darauf hinaus, Möglichkeiten für die Nachfrageerhöhung bei Konsumgütern und Produktionsmitteln zu finden. … Eine Hebung der Massenkaufkraft wird von Keynes ausdrücklich abgelehnt, da ‘im allgemeinen die Beschäftigung nur zunehmen kann, wenn die Rate der Reallöhne gleichzeitig fällt.'” Kommentar Meissners dazu: “Der bourgeoise Klasseninhalt dieses Standpunktes liegt auf der Hand.”

Meissner führt die Schilderung der Keynes’schen Gedanken wie folgt weiter: “Die Produktions-mittelnachfrage soll dadurch stimuliert werden, dass die umlaufende Geldmenge erhöht, dadurch das Angebot an Leihkapital gesteigert, der Zinssatz gesenkt und die Produktionserweiterung durch Aufnahme von Kredit attraktiv gemacht wird. Außerdem soll der Staat durch öffentliche Investi-tionen für unproduktive Zwecke, insbesondere für die Rüstung, den Reproduktionsprozeß in Gang halten.” Zutreffend kommentiert Meissner dieses Konzept mit den Worten: “Aber sowohl die Erhöhung der umlaufenden Geldmenge als auch die Finanzierung staatlicher Investitionen durch Geldemissionen bringen unvermeidlich eine Inflationstendenz mit sich.” (5)

Diese Beurteilung der Keynes’schen Rezepte wurde 1970 niedergeschrieben. Die weitere Ent-wicklung bis zur Gegenwart hat ihre Richtigkeit bestätigt. Umso erstaunlicher, dass in Bischoffs Keynes-Gedenkartikel auf diese Tendenz, die zur Realität geworden ist, mit keinem Wort hinge-wiesen wird, obwohl Bischoff vor knapp zwei Jahren, im ND vom 6.12. 1993, gemeinsam mit Klaus Steinitz einen Artikel veröffentlicht hat, in dem die Folgen der jahrzehntelangen staatlichen Kreditausweitungspolitik der Bundesregierung mit konkreten Zahlen eindrucksvoll vorgeführt wurden. In diesem Artikel, überschrieben: “Bedroht die Schuldenexplosion unsere Zukunft?” war zu lesen: “Die Schulden der öffentlichen Haushalte der Bundesrepublik sind seit 1950 ununter-brochen angestiegen. … Dabei hat sich das Tempo des Schuldenwachstums von Jahrzehnt zu Jahrzehnt erhöht. … Der Anteil der Staatsschulden am Bruttoinlandsprodukt hat sich ständig er-höht, von 17 Prozent in 1960 auf 19 Prozent in 1970, 32 Prozent in 1980, 43 Prozent in 1990 und schließlich 48 Prozent in 1993.” Bischoff/Steinitz schätzen, dass dieser Anteil im Jahr 1995 mit einer Staatsschuld von 2,2 Billionen DM 60 Prozent erreicht haben wird. Im Gleichschritt mit dem Anwachsen der Staatsschuld wuchs die Zinslast von fast zu ignorierenden 2,2 Milliarden DM in 1960 auf noch immer relativ verkraftbare 6,6 Milliarden DM in 1980, aber auf 130 Milliarden 1992! Für 1995 rechneten sie mit einer Zinsbelastung des Staatshaushaltes von ca. 170 Milliarden DM. Damit übersteigt der Posten für den Zinsendienst bereits den Transfer in das Gebiet der DDR, nach “Neufünfland”. Oder anders gesagt: den Großbanken als den Hauptgläubigern des Bundes fließen aus dem Staatshaushalt inzwischen Jahr für Jahr mehr Mittel zu als den neuen Bundesländern! Nach Bischoff/Steinitz reicht die jährliche Neuverschuldung des Staates inzwischen nur noch dafür aus, den Zinsendienst zu leisten; für produktive Ausgaben, Auftragsvergabe und Investitionen der öffentlichen Hand, wofür die Kreditaufnahme von Keynes propagiert und am Anfang der Schuldenspirale ja auch benutzt wurde, bleibt nun nichts mehr übrig.

Der bereits erwähnte amerikanische Ökonom Siskind hat schon vor über 35 Jahren die Zwangs-läufigkeit einer solchen Entwicklung aufgezeigt, als er schrieb: “Sämtlichen Keynesianern ist … die Theorie gemeinsam, dass große Ausgaben des Staates über seine Steuereinnahmen hinaus, das heißt, Defizitausgaben schlechthin, die Kaufkraft und Beschäftigungslage in jedem gewünschten Umfang verbessern können. … Die Neo-Keynesianer halten das Problem, dass sich die Ver-schuldung spiralförmig entwickeln müßte, für unbedeutend. … Sie lehnen die Erkenntnis ab, dass schließlich Grenzen für eine Verschuldung gegeben sind. … Allgemein bringt das Heilmittel, das Staatshaushaltsdefizit als Finanzierungsquelle zu benutzen, vermöge des Verschuldungsmecha-nismus innere Widersprüche hervor, die auf die Dauer … eine Katastrophe erzeugen können.” (6)

Einer solchen Katastrophe sind wir seitdem um vieles näher gekommen, wie folgende Situati-onsbeschreibung von Prof. Dr. Berthold Kühn im ND vom 30.9.1994 deutlich macht: “Die Schulden der öffentlichen Haushalte der Bundesrepublik … werden gegen Ende dieses Jahres schätzungsweise fast zwei Billionen DM ausmachen. Damit wird die Grenze von 6o Prozent des Bruttosozialprodukts erreicht, über der die Aufnahme eines Landes in die Europäische Wäh-rungsunion nicht mehr möglich ist. … Das Schuldengebirge verändert massiv die ökonomische und soziale Landschaft: Verstärkt wird das Volkseinkommen nach oben umverteilt, Kaufkraft und Sozialleistungen magern ab, riesige Kapitalmengen setzen sich auf den Geldmärkten fest, um fiktive Gewinne zu erspekulieren, der Schwund in den Kassen befördert Demokratie-Abbau, schließlich ist die Reproduktion der Gesellschaft nicht mehr gegeben.”

Offenbar besteht zum ersten Mal in der Geschichte der Keynesianischen Variante staatsmonopo-listischer Wirtschaftspolitik die Gelegenheit, die Entfaltung ihrer inneren Widersprüche von den Anfängen bis in ihre Endphase zu verfolgen. Das ist für eine wissenschaftliche Aussage über die ihr innewohnenden Entwicklungsgesetze und über ihren Platz in der Geschichte des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus von großer Bedeutung, erlaubt doch nur die Beobachtung eines abgeschlossenen Entwicklungszyklus eine zuverlässige Analyse bzw. die Probe auf die Richtigkeit einer aufgrund bisheriger Daten bereits gebildeten Theorie.

Die marxistischen Ökonomen konnten zwar für die beiden frühen “klassischen” Ausprägungen Keynesianischer Wirtschaftspolitik nach 1933 – einerseits Roosevelts “New Deal”, andererseits die Wirtschaftspolitik des deutschen Faschismus – voraussagen, dass beide nicht imstande sind, die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise aufzuheben und deshalb beide entweder in eine neue Wirtschaftskrise oder in einen Krieg führen müssen. Da der deutsche Faschismus die Welt schon sechs Jahre nach seinem Machtantritt in den Krieg stürzte, blieb die Frage, ob diese Prognose auch unter Friedensbedingungen zutreffen würde, offen.

Das sollte sich für das Denken einiger marxistischer Ökonomen nach 1945 als verhängnisvoll erweisen, als die Erwartungen auf den Ausbruch einer neuen und womöglich noch verheerenderen Weltwirtschaftskrise sich immer wieder als irrig erwiesen und der Kapitalismus, statt in eine neue Wirtschaftskatastrophe zu stürzen, in eine Phase jahrzehntelangen erstaunlichen Wachstums trat, das nur hin und wieder von mehr oder minder ausgeprägten “Rezessionen” unterbrochen wurde, von denen keine auch nur entfernt an die Weltwirtschaftskrise herankam.

Für wirklich marxistische Ökonomen, wie z. B. den zitierten George Siskind, war klar, dass die große Krise nur aufgeschoben worden ist, gewissermaßen in die Zukunft verlagert, weil durch die Defizitfinanzierung in der Gegenwart eine Kauf- und Investitionskraft zur Verfügung gestellt wurde, die eigentlich erst den künftigen Generationen gehörte. Keynesianismus ist also eine Schaffung von “Wohlstand” in der Gegenwart durch Raub und Verbrauch von Zukunft. Je größer und anhaltender diese Zukunfts-Raubwirtschaft betrieben wird, um so schwerer und langwieriger die künftige Wirtschaftskatastrophe.

Einige sehr namhafte Ökonomen in der DDR und anderswo suchten und fanden für das Ausbleiben der großen Krisen und für die unerwartete enorme Expansions- und Innovationskraft des Kapita-lismus eine andere, “undogmatische” und “unorthodoxe” Erklärung: sie “entdeckten” nämlich, (was vor ihnen schon andere, z.B. Hilferding, “entdeckt” hatten), dass der “moderne Kapitalismus” sich gewandelt habe zu einem Kapitalismus, der gelernt hat, seine Wirtschaft zu planen und zu regeln, der deshalb in der Lage sei, große, verheerende Krisen zu vermeiden; ein Kapitalismus, der auch ganz neue, friedliche Wege des Überganges zum Sozialismus eröffne.

Trotz aller Tatsachen, die heute deutlicher denn je solche Auffassungen als grausame Illusion bloßstellen, hat sich die Zahl solcher Illusionisten eher vermehrt als verkleinert, und sie versuchen hartnäckig, diese ihre Illuionen als “moderne Erkenntnisse” unter die Leute zu bringen.

Heute sind wir aber imstande zu erkennen: die Dialektik der Entwicklung der Keynesianischen Variante staatsmonopolistischer Wirtschaftspolitik besteht darin, dass sie in ihrer Endphase un-vermeidlich in jene andere Variante mündet, die sie abgelöst hat und als deren genaues Gegenteil sie in den 30er Jahren in die Welt getreten ist mit dem Anspruch, jene Katastrophe zu vermeiden, in die diese andere damals geführt hatte – in die Deflationspolitik mit ihrer radikalen Kürzung der Staatsausgaben und ebenso radikalen Beschneidung der Massenkaufkraft. Die Keynesianische Wirtschaftspolitik ist – auf höherer Ebene – wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt und ist dabei, ihren Zyklus zu vollenden.

Für Joachim Bischoff ist aber offenbar der Wechsel vom Keynesianismus zur “neoliberalistischen” Variante staatsmonopolistischer Wirtschaftspolitik nicht die dialektische Vollendung eines lang-fristigen kapitalistischen Wirtschaftszyklus, sondern das Ergebnis falscher Entscheidungen von Politikern, die Keynes’ Lektionen nicht gelernt haben. Diesen Irrglauben teilt er indessen mit nicht Wenigen. Unter bürgerlichen Ökonomen ist ja seit längerem ein Streit im Gange zwischen Keynesianern, die sich über die Angst vor einer Inflation bei den Vertretern der Gegenpartei lustig machen, und den “Deflationisten”, die die Sicherung der Stabilität der Währung für die wichtigste Aufgabe der Wirtschaftspolitik halten.

Aber an diesem Streit zwischen Keynesianern und Deflationisten beteiligen sich – und das ist dann doch recht beklemmend zu sehen – auch gestandene marxistische Ökonomen. Dafür nur ein Bei-spiel, das mich besonders traurig stimmte: Am 12. Juli 1993 brachte das ND einen Artikel von Thomas Kuczynski, in dem er einige Gedanken zu “Aspekten der Wirtschaftsentwicklung nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in Osteuropa” äußert, darunter diesen: “Der Grundzug gegenwärtiger Wirtschaftspolitik ist … Kurzfristigkeit und damit auch Kurzsichtigkeit. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als bei der Sparpolitik der deutschen Bundesregierung. Es ist geradezu atemberaubend, zu beobachten, wie heute – nicht nur in Deutschland – genau jene Spar-Zins- und Deflationspolitik fröhliche Urständ zu feiern beginnt, die in den Jahren von 1929 bis 1932 so enorm krisenverschärfend gewirkt hat. Nullrunden, Härteklauseln und arbeitszeitverlängernde Regelungen rufen Erinnerungen an den ‘Hungerkanzler Brüning’ wach.” “Noch halten sich die (un)sozialen Auswirkungen in Westeuropa im Rahmen des Erträglichen”, stellt Thomas Kuczynski fest, “aber wie lange noch?” Es sei “hohe Zeit, dass – selbst in den engen Grenzen kapitalistischer Vernunft – gegengesteuert wird, auch von einer prinzipiell antikapitalistischen Linken.” An welche Art der Gegensteuerung denkt er dabei? Er empfiehlt den imperialistischen Siegern über den “Realsozialismus in Osteuropa”, so, wie die USA dem einstigen Gegner Deutschland mit dem Marshall-Plan unter die Arme gegriffen haben, für die besiegten “einstigen Gegner” “ein Hil-fe-zur-Selbsthilfe-Programm” zu entwickeln. Realistischerweise räumt er ein, dass ein solches Programm “zunächst einmal … enorme Summen” kostet, “von denen niemand sagen kann, wann und wie sie zu Buche schlagen werden.”

Was hier empfohlen wird, ist Keynesianismus pur, wobei aber erstaunlicherweise völlig außer acht gelassen wurde, dass der Marshall-Plan von den Vereinigten Staaten lanciert wurde, nachdem sie aus dem Zweiten Weltkrieg als der Welt größter Gläubiger herausgekommen waren und fieberhaft nach Anlagemöglichkeiten für ihren Kapitalfluss suchten, während die “enormen Summen” für das von Thomas Kuczynski vorgeschlagene Programm heute von Staaten aufgebracht werden müssten, die ohnehin schon bis zur Halskrause in Schulden stecken. Was hier völlig fehlt, aber doch wohl erwartet werden durfte, ist eine marxistische Analyse der tiefer liegenden Triebkräfte der gegenwärtigen ökonomischen Politik der Herrschenden und daraus abgeleitet eine Orientierung für die Beherrschten, wie dieser Politik am wirkungsvollsten entgegengetreten werden kann. Statt-dessen die Feststellung, “das ökonomische Hauptproblem nicht nur in Deutschland” bestehe darin “dass die ‘Sieger der Geschichte’ nicht begreifen können oder wollen, dass sie gerade wegen ihres Triumphes ihre Wirtschaftspolitik radikal ändern müssen”, nämlich indem sie, wie bereits erwähnt, eine Art Marshall-Plan für Osteuropa von Stapel lassen.

Es las sich wie eine väterliche Gegenrede (und war als solche vielleicht auch gemeint), als wenig später im ND vom 4.8.1993 ein Artikel Jürgen Kuczynskis unter der Überschrift “Lieber Unsi-cherheit als Chaos?” erschien, in dem die Bekämpfung von Inflation zur erstrangigen Aufgabe der Wirtschafts- und Finanzpolitik erklärt wurde. Kuczynski senior schrieb dort: “Allgemein wird die Schuld an der Währungsunsicherheit der Deutschen Bundesbank zugeschoben. Diese verfolgt in ihrem berechtigten Kampf gegen die in Deutschland steigende Inflation eine Hochzinspolitik, die der Geldvermehrung in Deutschland durch ständig steigende Kredit-aufnahme von Seiten des Staates und der Konzerne entgegenwirken soll … und so die Mark in-ternational stärkt.” Einen Zeitungskommentar, demzufolge die Bundesbank mit dieser Hochzins-politik “das deutsche Interesse dem der Europäische Gemeinschaft” voranstellt, ergänzt J.K. wie folgt: “Dabei aber, und das muß deutlich gesagt werden, ist unter deutschem Interesse auch das Interesse der Bevölkerung zu verstehen. … Die Menschen in Deutschland … fordern ein Ende der Inflation…”.

Also – wie bei Kuczynski junior auch bei Vater Kuczynski – keine Analyse der Widersprüche der kapitalistischen Ökonomik und kein Aufzeigen einer eigenständigen Gegenposition, sondern Parteinahme für eine der monopolkapitalistischen Varianten der Wirtschaftspolitik, aber im Ge-gensatz zu Thomas Kuczynski für die deflatorische des Bundesbankpräsidenten. Wie gut haben doch früher Vater und Sohn Kuczynski den Arbeitenden klarzumachen verstanden, dass jeder Versuch eines kapitalistischen Ausweges aus den vom Kapitalismus hervorgebrachten Krisenzu-ständen zu Lasten der Massen geht und diese deshalb einen eigenen Weg zu Verteidigung ihrer Interessen gehen müssen!

Wir hatten vorhin davon gesprochen, dass der Übergang von der Politik des großzügigen “deficit-spending” zur Rotstiftpolitik der Sparprogramme erzwungen wurde durch die drückende Last der Schuldenberge.

Es wäre indessen einseitig und daher falsch, diesen Übergang lediglich als den Herrschenden von “Sachzwängen” aufgezwungen zu betrachten. Eine Politik zur Herbeiführung niedriger Löhne und maximaler Profite ist ja doch die normale Politik des Monopolkapitals und seines Staates. Deshalb war eine solche Politik vom Kapital schon lange gewünscht und gefordert worden, hatte sich jedoch als nicht durchsetzbar erwiesen. Dem stand die Existenz der Welt des Sozialismus, auf deutschem Boden die Existenz der Deutschen Demokratischen Republik, im Wege. Wenn der Imperialismus den Kalten Krieg gegen den Sozialismus gewinnen wollte, war er gezwungen, eine Politik fortzuführen, die das Kontrastbild “Kapitalismus gleich Wohlstand für alle – Realsozialismus gleich Mangelwirtschaft” nicht beschädigte, sondern Tag für Tag bestätigte, jedenfalls aus dem “östlichen” Blickwinkel. Vielen westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären war und ist dieser Tatbestand durchaus bewusst, wie die Äußerung vieler von ihnen bezeugt, die da lautet: Bei un-seren Tarifverhandlungen mit den Unternehmern saß die DDR immer als dritter Verhandlungs-partner mit am Tisch!

Solange sich der deutsche und der Weltimperialismus im Kalten Krieg gegen den Sozialismus befanden, spielte für sie die wachsende Schuldenlast keine Rolle: das waren Kriegskosten, die man leicht wieder hereinholen würde, wenn man diesen Krieg und damit die DDR und die riesigen Absatzmärkte im Osten gewonnen haben würde. Und falls er verloren gehen würde, brauchte man sich erst recht keine Sorgen darum zu machen, wer die Schulden bezahlen sollte.

Tatsächlich verzeichneten die Großbanken, Konzerne und Handelsketten der BRD durch die An-nexion der DDR, die Vereinnahme ihrer Betriebe und den Zugewinn eines Absatzmarktes von 17 Millionen Rekordgewinne. Die Staatsschuld allerdings hat sich nicht verringert, sondern enorm vergrößert; zum einen, weil die Treuhand das Volkseigentum der DDR an die “Privatisierer” weit unter Wert verschleuderte; zum anderen, weil diese “Privatisierer” die Hälfte bis neun Zehntel der bisherigen Belegschaften der volkseigenen Betriebe auf die Straße setzten und damit die Zahl der Empfänger von Sozialunterstützung um weit über zwei Millionen anschwellen ließen. Wie 1929-1933 nützen das Großkapital und sein geschäftsführender Ausschuss in Bonn die Massen-arbeitslosigkeit und die leeren Kassen der öffentlichen Hand dazu, den Werktätigen massiv in die Tasche zu greifen, und sie erklären dabei auch noch zynisch, das geschehe im Namen der Solidarität mit den Arbeitslosen. Die Senkung der Steuern für Vermögende trotz leerer Kassen zeigt indessen, um wessen Wohlergehen die Kohl und Waigel tatsächlich besorgt sind.

Was lässt sich abschließend über den Platz des Keynesianismus in der Geschichte des staats-monopolistischen Kapitalismus sagen?

Zum einen dies: Die Ergebnisse von mehr als einem halben Jahrhundert Keynesianischer Wirt-schaftspolitik der führenden Industrieländer lassen keinen Zweifel daran, dass auch auf die Kri-senüberwindungs-Rezepte des Lord Keynes zutrifft, was Friedrich Engels in einer Fußnote im Dritten Band des “Kapital”, gemünzt auf damals ergriffene Maßnahmen zur Krisenabwendung, ausgeführt hat: “Durch all dies sind die meisten alten Krisenherde und Gelegenheiten zur Krisen-bildung beseitigt oder stark abgeschwächt.” Aber, so sagt er voraus, es “birgt jedes der Elemente, das einer Wiederholung der alten Krise entgegenstrebt, den Keim einer weit gewaltigeren künftigen Krise in sich.” (7)

Zum anderen: Ein Blick auf die Politik, zu deren Durchführung der Keynesianismus von seinem Anfang 1933 bis zu seiner Ablösung durch den sog. Neoliberalismus Anfang der neunziger Jahre praktiziert wurde, lässt die Feststellung zu: der Keynesianismus ist die vorherrschende staats-monopolistische Wirtschaftspolitik in der Periode der Vorbereitung und Durchführung des Zweiten Weltkrieges und des darauf folgenden Kalten Krieges des Imperialismus gegen den Sozialismus. Es kann kaum als Zufall betrachtet werden, dass die Zeit seiner Vorherrschaft zu Ende geht und abgelöst wird durch die “neoliberale” Wirtschaftspolitik der Deregulierung und Privatisierung, des rabiaten Sozialabbaus, der Massenarbeitslosigkeit und der “Spar”-Programme, nachdem das politische Ziel des – vorläufigen! – Sieges über den Sozialismus in Europa/der Sowjetunion erreicht wurde.

Die Schlussfolgerung aus alledem kann nur sein: Die Leidtragenden der Politik der Herrschenden bleiben bei jeder Variante dieser Politik dieselben. Es kann für sie nicht darum gehen, für die eine – die keynesianische – gegen die andere – die “neoliberale” – zu optieren, sondern darum, allen Va-rianten der Politik des Monopolkapitals eine eigene, an den Interessen der Werktätigen orientierte Politik entgegenzustellen. Dadurch kann zwar nichts daran geändert werden, dass in der kapita-listischen Gesellschaft die Profitlogik die herrschende Logik bleibt. Aber, wie Marxschon vor 130 Jahren in seinem berühmten, leider noch immer und sogar wieder mehr denn je aktuellen Vortrag über “Lohn, Preis und Profit” nachwies, haben die Arbeiter durchaus die Möglichkeit, die Auf-teilung der von ihnen geschaffenen Werte zwischen Kapital und Arbeit zu ihren Gunsten zu be-einflussen, denn: “Die Fixierung ihres (der Profitrate) faktischen Grads erfolgt nur durch das un-aufhörliche Ringen zwischen Kapital und Arbeit, indem der Kapitalist ständig danach strebt, den Arbeitslohn auf sein physisches Minimum zu reduzieren und den Arbeitstag bis zu seinem phy-sischen Maximum auszudehnen, während der Arbeiter ständig in der entgegen gesetzten Richtung drückt. Die Frage löst sich auf in die Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden.” Nur in diesem Klassenkampf werden die Arbeiter die Erfahrungen und den Willen wiedergewinnen, um erfolgreich nicht nur für ihre Tagesinteressen zu kämpfen, sondern für eine Gesellschaft, in der das Wort von “sozialer Gerechtigkeit” keine Phrase, sondern Beschreibung der Wirklichkeit ist.

Erschienen in “Weißenseer Blätter”- 4/1996;
danach in “Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie”, Heft 9 “Aspekte der Ökonomie”, 1997, S. 45-57

Anmerkungen:

(1) Zit. nach: George Siskind, John Maynard Keynes – ein falscher Prophet. Die Ursachen des ideologischen Einflusses der Keynesschen Lehre und ihre Trugschlüsse, Dietz Verlag, Berlin 1959, S. 5. Vgl. zur Beurteilung von Keynes in der DDR auch: Werner Krause, Wirtschaftstheorie unter dem Hakenkreuz. Die bürgerliche politische Ökonomie in Deutschland während der faschistischen Herrschaft. Berlin 1969, S. 159 ff.

(2) John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, München und Leipzig 1936, S. IX.

(3) K.H. Schwank, S. 55

(4) J.M.Keynes, Allgemeine Theorie …, S. 110

(5) Ökonomisches Lexikon, A-K, Verlag Die Wirtschaft, Berlin, 2. Aufl.1970, S. 1061 f. “Key-nesianismus”, Verf. H. Meissner

(6) Siskind a.a.O S. 67 f.

(7) MEW Bd.25, S. 506