Gegen die Verfälschung der sozialistischen Freiheitsidee (Sommer 1954)

 

Kurt Gossweiler

GEGEN DIE VERFÄLSCHUNG DER
SOZIALISTISCHEN FREIHEITSIDEE (1954)
Einführende Bemerkungen

In den Jahren von 1947 bis 1955 war ich Mitarbeiter der Landesleitung Berlin der SED, im Jahre 1954 als stellvertretender Leiter des Parteikabinetts der Landesleitung. Damals war die Berliner SED noch eine einheitliche Gesamtberliner Organisation, im Landesvorstand gab es aber eine Westabteilung, deren Leiter, wenn ich mich recht erinnere, zu diesem Zeitpunkt Bruno Baum war. Eines Tages wurde ich zu unserem Abteilungsleiter gerufen, der mir eröffnete, die Westabteilung habe Verbindungen zu Jugendgenossen der Jusos, der Jungsozialisten, also der Jugendorganisation der SPD, und die hätten eine Bitte vorgetragen. Sie geben eine eigene Zeitschrift, “Die Fackel” heraus, und sie wollen zwei Sondernummern herausbringen mit einer grundsätzlichen Kritik an den Positionen der Berliner SPD-Rechten, und sie wollen diese Nummern auf dem bevorstehenden Parteitag (in Berlin vom 20. bis 24. Juli 1954/Anm.KvR) als Juso-Material auslegen. Aber für die Erarbeitung der Texte brauchten sie Hilfe, und die hätten sie gerne von uns. In der einen Nummer sollte es gegen die Verfälschung der sozialistischen Freiheitsidee durch die Berliner SPD-Rechten gehen, in der zweiten Nummer um die außenpolitische Orientierung der SPD.

Ob ich mir zutraute, die Artikel für diese Nummern so zu schreiben, dass sie auch der Über-prüfung durch die Parteizensur standhalten und als echte Juso-Erzeugnisse auf dem Parteitag verteilt werden könnten. Ich sagte, dass ich mir das schon zutraute, aber nur, wenn sie – also die Genossen der Landesleitung – sich darüber klar seien, dass das nur dann gelingen könnte, wenn diese Artikel auch antikommunistische Passagen enthalten würden und sie mir diese nicht streichen würden.

So schrieb ich also die von den Juso-Genossen gewünschten zwei Artikel. Leider habe ich nur noch einen davon.

Die Juso-Genossen haben uns berichtet, die beiden Artikel seien nach peinlicher Prüfung von den zuständigen SPD-Funktionären als “echt und nicht untergeschoben” befunden und mit verschiedenen Änderungen zugelassen und auf dem Parteitag verteilt worden.

Wir bekamen von den Juso-Genossen die beiden Nummern der Fackel, (die Nummern 2 und 3) und konnten so feststellen, welche Änderungen vorgenommen wurden.

Der hier vorgelegte Artikel zur “sozialistischen Freiheitsidee” blieb fast unverändert. Gestrichen wurden die letzten beiden Seiten, auf denen die Notwendigkeit der Aktionseinheit mit den Kommunisten begründet worden war. Sehr viel mehr Änderungen mussten die Juso-Genossen am zweiten Artikel, dem zur Außenpolitik, hinnehmen.

Der Leser dieses vor einem halben Jahrhundert geschriebenen und von der linken SPD-Jugend verteilten Materials mag mit Verblüffung und Bestürzung feststellen, wie zeitnah und aktuell gerade jetzt doch der Konflikt ist, der damals zwischen SPD-Spitze und linken Sozialdemokraten ausgetragen wurde. Mit Bestürzung auch deshalb, weil diese Lektüre noch schmerzhafter bewusst macht, wie weit wir durch die Liquidierung der DDR in ganz Deutschland wieder zurückgeworfen wurden.
Abschrift
GEGEN DIE VERFÄLSCHUNG DER SOZIALISTISCHEN FREIHEITSIDEE
Das gegenwärtig dringendste Anliegen in der Partei ist die Herbeiführung einer Klärung über ihre geistigen und weltanschaulichen Grundlagen. Seit dem Wahlergebnis des 6. September 1953 ist die Diskussion über diese Fragen vor allem von jenen Genossen vorangetrieben worden, die eine “Neuorientierung” der Partei in der Richtung des endgültigen Bruches mit – wie sie behaupten – “unzeitgemäß gewordenen Vorstellungen und Begriffen” (Klingelhöfer) fanden. Es ist dies in Berlin vor allem die Gruppe um die Herausgeber der Reuter-Briefe (Siegfried Aufhäuser, Paul Hertz, Gustav Klingelhöfer u. a. ). Der Hauptangriff dieser Gruppe richtet sich gegen all das, was der Mehrzahl der Mitglieder unserer Partei, vor allem ihren Arbeiter-Mitgliedern, als geistiges Fundament der Partei gilt: Die sozialistische Zielsetzung, die Beantwortung des Klassenkampfes von oben durch den Klassenkampf von unten; schließlich als Ausgangspunkt für die praktische Politik der Partei die Analyse der modernen kapita-listischen Gesellschaft, wie sie uns in den Grundzügen von Karl Marx gegeben wurde.

Im ersten Reuter-Brief nennt Klingelhöfer diese Ideen “überständige Vorstellungen”, die “Ketten geworden sind, die uns um so schneller eine Welt gewinnen lassen, je schneller wir sie von uns werfen”. Er geht soweit, zu behaupten: Sozialismus als eine Heilslehre ist heute ent-behrlich”.

Klingelhöfer verbannt also leichtfertig und bedenkenlos die gewaltigen Ideen eines Karl Marx ins Museum, aber er bleibt jeden eigenen konstruktiven Gedanken, der die so entstehende weltanschauliche Leere ausfüllen könnte, schuldig. Er fordert lediglich von der SPD, dass sie “bis zur Selbstaufgabe realistisch” sein müsse, und wir befürchten allerdings, dass die von ihm und anderen geforderte “Erneuerung” der Partei tatsächlich ihrer Selbstaufgabe gleichkommen würde.

Diesen Mangel an gedanklicher Substanz mag Klingelhöfer wohl selbst empfunden haben. Das würde jedenfalls den Stoßseufzer der Erleichterung verständlich machen, mit dem er im fünften Reuterbrief eine Formulierung Paul Serings (2. Brief) aufgreift: “Nach der glücklichen For-mulierung von Paul Sering ist die Freiheitsidee im Industriezeitalter die sozialistische Kernidee und ihre Verwirklichung durch das Mittel der bewussten gesellschaftlichen Kontrolle der Macht die sozialistische Kernaufgabe”. Endlich also vermeint Klingelhöfer das Feigenblatt einer “Kernidee” gefunden zu haben, mit dem er seine ideologische Nacktheit und Blöße bedecken kann.

Nun sind wir allerdings – und das nicht erst mit Serings “glücklicher Formulierung”! – der Überzeugung, dass die Freiheit, die Befreiung des Menschen und der ganzen Gesellschaft, nicht nur die “Kernidee”, sondern das Ziel darstellt, das zu erreichen sich die Sozialdemokratie seit jeher als höchste Aufgabe gestellt hat. Aber das Wort “Freiheit” schillert in den Farben aller Parteien, vom Braun bis zum rötesten Rot der Kommunisten. Keine Partei, die nicht das Wort “Freiheit” auf ihr Banner geschrieben hätte!

Daher genügt es nicht, das Wort “Freiheit” als magisches Zauberwort auszusprechen.

Wir müssen klar formulieren, welche Freiheit wir meinen, wenn wir anders nicht in den Verdacht geraten wollen, dieses Wort ebenfalls nur zum Zweck des Stimmenfangs zu missbrauchen. Was Gustav Klingelhöfer dazu zu sagen weiß, ist allerdings verwaschen und unklar genug, um einen solchen Verdacht geradezu aufzudrängen.

Was soll man davon halten, wenn er in einem Atemzuge als Grundlage für ein Grundsatzpro-gramm der Sozialdemokratie folgende sich gegenseitig ausschließende Elemente nennt:

“erstens von Karl Marx die auch heute nicht erschütterte Begründung der heute wie je gegen-über … der Herrschaft des Kapitals geltenden sozialistischen Freiheitsidee und die Forderung ihrer Verwirklichung,

“zweitens von Ferdinand Lassalle der Weg … der ‚sozial-kapitalistischen’ Selbsthilfe der ab-hängig arbeitenden Menschen …

drittens von Jahn Maquard Keynes … die Befreiung vom Albdruck des marxistischen Den-kens!”

Eine solche eklektische Bettelsuppe kann nicht anders als ungenießbar sein und muss zu Durchfall bei demjenigen führen, der sie dennoch zu seiner geistigen Kost zu machen versucht.

Gustav Klingelhöfer spricht von der “sozialistischen Freiheitsidee”. Aber meint er auch wirklich die sozialistische Freiheitsidee?

Worin besteht denn deren wesentlicher Inhalt? Doch in der Erkenntnis, dass die wahre Freiheit des schaffenden Menschen und der ganzen Menschheit nur im Sozialismus verwirklicht werden kann, dass der Sozialismus die Vorraussetzung der Freiheit ist, dass also der Kampf um die Freiheit gleichbedeutend ist mit dem Kampf um den Sozialismus!

Bei Gustav Klingelhöfer hat aber das Wort “sozialistische Freiheitsidee” nicht diesen Inhalt, im Gegenteil: Er wie auch andere bemühen sich gerade darum, diese beiden zueinander gehörenden Begriffe “Freiheit” und “Sozialismus” auseinanderzureißen, den Nachweis zu führen, dass man auf die sozialistischen Ziele verzichten könne, ohne dabei auch gleichzeitig auf die Verwirklichung der Freiheit zu verzichten.

Deshalb spricht er davon, dass der Sozialismus als Heilslehre heute “entbehrlich” sei.

Er beschränkt die “Emanzipation des Proletariats” auf die Herstellung der staatsbürgerlichen Gleichheit. Er behauptet:

“Heute ist in allen kapitalistischen Industriestaaten der Welt die soziale Frage auf dem Weg zur Lösung (!). Die Gewährleistung der politischen gleichen Bürgerrechte ist der Weg auch zur Verwirklichung der sozialen gleichen Menschen geworden”.

Damit negiert Klingelhöfer Erkenntnisse, die sich die Menschheit durch qualvolle und bittere Enttäuschungen in den letzten 150 Jahren erworben hat.

Wenn bei den Jakobinern der französischen Revolution von 1789 die Illusion, allein durch die Herstellung der staatsbürgerlichen Gleichheit vor dem Gesetz alle Menschen wirklich gleich und frei zu machen, verständlich und entschuldbar, weil historisch begründet war, können für die Wiederholung solcher Irrtümer in der Mitte des 20. Jahrhunderts keinerlei mildernde Umstände ins Feld geführt werden.

Die Beseitigung der persönlichen Freiheit des Feudalismus und die Proklamation der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz hat ja in der Periode nach der französischen Revolution gerade erst deutlich werden lassen, dass die Grundwurzel der Abhängigkeit und Unfreiheit der arbeitenden Bevölkerung nicht in ihrer – bereits weitergehend beseitigten – rechtlichen, sondern in der noch immer bestehenden und sogar verschärften sozialen Ungleichheit zu suchen ist. Diese Erkenntnis hat schon lange vor Marx die besten Geister sich mit der Frage beschäftigen lassen, auf welche Weise nicht nur die rechtliche, sondern die wirkliche, d. h. auch soziale Gleichheit und Freiheit zu erreichen sei. Aber während jene nur die Hügel sozialistischer Ahnungen er-klommen, gelang Karl Marx die Bezwingung des Berggipfels, gelang ihm die wissenschaftliche Fundierung des sozialistischen Gedankens.

Die bürgerliche Gesellschaft befreite die arbeitende Klasse von der Leibeigenschaft, sie schuf den freien Lohnarbeiter, den Proletarier. Dieser war, wie Marx zeigte, gegenüber dem Leib-eigenen im doppelten Sinne frei: Frei von der Kette persönlicher Untertänigkeit gegenüber seinem Grundherrn, frei aber auch von jeglichen Eigentum an Produktionsmitteln!

Gar bald stellte es sich heraus, dass dieser “freie” “Arbeiter-Bürger” durch seine Besitzlosigkeit in grausame Abhängigkeit, in größere Unfreiheit und in vorher nie gekannte Existenzunsi-cherheit gestürzt war. Der morgenfrische Glanz der großen Werte der französischen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verblasste mit dem Heraufsteigen des kapitalistischen Alltags zu einer leeren, verlogenen, hohnvollen Phrase. Die “Gleichheit” der Staatsbürger in der bürgerlichen Gesellschaft hat der Franzose Anatole France ebenso sarkastisch wie treffend mit den Worten gekennzeichnet: “Es ist Reichen wie Armen verboten, unter Brücken zu schlafen.”

Marx war es, der dem sozialistischen Freiheitsbegriff seinen klar umrissenen Inhalt gab, indem er ihn definierte als die Befreiung des Menschen von der Ausbeutung durch andere Menschen.

Die volle politische und soziale Freiheit des Einzelnen ist erst dann gesichert, wenn er vor jeglicher Ausbeutung gesichert ist. Die gesamte Menschheit ist erst dann wahrhaft frei, wenn die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt ist.

Diese Freiheit erreicht die Menschheit aber nicht durch die noch so feierliche Proklamation der staatsbürgerlichen Gleichheit, sondern nur durch die Beseitigung der Voraussetzung jeglicher Ausbeutung. Diese Voraussetzungen liegen aber nicht in erster Linie in der politischen, sondern in der ökonomischen Sphäre. Sie wurden durch die ökonomische Lehre Karl Marx enthüllt.

“Der römische Sklave war durch Ketten, der Lohnarbeiter ist durch unsichtbare Fäden an seinen Eigentümer gebunden. Der Schein seiner Unabhängigkeit wird durch den beständigen Wechsel der individuellen Lohnherren und die fictio juris des Kontrakts aufrechterhalten”, sagt Marx im Kapital. ( 1 )

Marx verspottet jene Advokaten des Kapitalismus, die davon reden, dass Kapitalist und Ar-beiter sich als gleichberechtigte Kontrahenten gegenüberstehen und zum beiderseitigen Wohl zusammenarbeiten, indem er sagte:

“Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Men-schenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z. B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äqui-valent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den anderen kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge, oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses.

Beim Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Zirkulation oder des Warenaustausches, woraus der Freihändler vulgaris Anschauungen, Begriffe und Maßstab für sein Urteil über die Gesellschaft des Kapitals und der Lohnarbeit entlehnt, verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unserer dramatis personae (handelnde Personen). Der ehemalige Geldbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und ge-schäftseifrig, der andere scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigene Haut zu Markte getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die -Gerberei.” ( 2 )

Und nachdem Marx den Mechanismus dieser “Gerberei”, d.h. der kapitalistischen Form der Ausbeutung eingehend dargelegt hat, kommt er zu der Feststellung:

“Man muss gestehn, dass unser Arbeiter aus dem Produktionsprozess herauskommt, als er in ihn eintrat. Auf dem Markt trat er als Besitzer der Ware ‚Arbeitskraft’ andren Warenbesitzern gegenüber, Warenbesitzer dem Warenbesitzer. Der Kontrakt, wodurch er dem Kapitalisten seine Arbeitskraft verkaufte, bewies sozusagen Schwarz auf weiß, dass er frei über sich selbst verfügt. Nach geschlossenem Handel wird entdeckt, dass er ‚kein freier Agent’ war, dass die Zeit, wofür es ihm freisteht, seine Arbeitskraft zu verkaufen, die Zeit ist, wofür er gezwungen ist, sie zu verkaufen, dass in der Tat sein Sauger nicht loslässt, solange noch ein Muskel eine Sehne, ein Tropfen Blute auszubeuten. ( 3 )

Die genaueste und gewissenhafteste Untersuchung der kapitalistischen Produktionsweise führt Marx zu der Schlussfolgerung:

“Der kapitalistische Produktionsprozess reproduziert also durch seinen eignen Vorgang die Scheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeitsbedingungen. Er reproduziert und verewigt damit die Exploitationsbedingungen des Arbeiters. Er zwingt beständig den Arbeiter zum Verkauf seiner Arbeitskraft, um zu leben, und befähigt beständig den Kapitalisten zu ihrem Kauf, um sich zu bereichern.” ( 4 )

Die Annahme dieser Schlussfolgerung bedeutet für unser Thema, dass es keinerlei Möglichkeit gibt, die sozialistische Freiheitsidee, nämlich die Befreiung von der Ausbeutung, innerhalb kapitalistischer Verhältnisse zu verwirklichen, dass diese Idee vielmehr nur im Kampf gegen und nach der Beseitigung der kapitalistischen Ordnung Gestalt annehmen kann. Diesen Be-freiungskampf führen muss in erster Linie jene Klasse, die das direkte und unmittelbare Objekt der Ausbeutung durch das Kapital ist, das Proletariat.

Diese Erkenntnis hat Marx bereits in einer seiner Frühschriften im Jahre 1844, zu einer Zeit also, als er selbst noch nicht Marxist war, ausgesprochen, und zwar in der Einleitung zur Kritik der Hegelchen Rechtsphilosophie.

Er fragt dort:

“Wo also besteht die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation?”

Und er antwortet drauf:

“In der Bildung einer Klasse,…welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat”.

Dieser Gedanke erhielt später im Kommunistischen Manifest, – diesem bei uns oft genannten aber wenig bekannten Werk – seine klassische Formulierung:

“Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Le-bensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen. Die Proletarier können sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneinungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungs-weise abschaffen”.

Die bürgerliche Gesellschaft ist außerstande, dem Arbeiter die wirkliche freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zu erlauben, sie ist unvereinbar mit den Forderungen eines echten, alle Menschen umgreifenden Humanismus.

Marx drückt das folgendermaßen aus:

“In der bürgerlichen Gesellschaft ist das Kapital selbständig und persönlich, während das tätige Individuum unselbstständig und unpersönlich ist. Und die Aufhebung dieses Verhältnisses nennt die Bourgeoisie Aufhebung der Persönlichkeit und Freiheit! Und mit Recht! Es handelt sich allerdings um die Aufhebung der Bourgeois-Persönlichkeit, -Selbständigkeit und -Freiheit. Unter Freiheit versteht man innerhalb der jetzigen bürgerlichen Produktionsverhältnisse den freien Kauf und Verkauf. Fällt aber der Schacher, so fällt auch der freie Schacher”.

All dies wurde vor rund 100 Jahren geschrieben, und die Frage ist durchaus berechtigt: Haben diese Feststellungen heute noch die gleiche Gültigkeit wie damals?

Wie wir schon sahen, beantworten Klingelhöfer und andere diese Frage mit einem entschie-denen: Nein. Man müsste erwarten, dass es für dieses Nein überzeugende Erklärungen gibt. Diese Erwartung wird enttäuscht. Es gibt nur Behauptungen, die im krassen Widerspruch zur Wirklichkeit stehen, sogar im Widerspruch zu Feststellungen, zu denen sich selbst Klingelhöfer gezwungen sieht.

Untersuchen wir daher selbst die Marx’sche Feststellungen auf ihre Brauchbarkeit und Gül-tigkeit für unsere gegenwärtige Situation und konfrontieren wir sie mit den Klingelhöferschen “Korrekturen”.

Die wichtigste Frage: Hat sich das Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnis des Proletariats gegenüber der Kapitalistenklasse grundsätzlich gewandelt?

Gustav Klingelhöfer bejaht diese Frage. Er behauptet, “dass es in der modernen Industrie-wirtschaft des Westens keine freiverfügende Kapitalistenklasse und auch keine ihr hilflos ausgelieferte Arbeitsklasse mehr gibt”. Er behauptet weiter, dass heute “eine nicht geringere faktische Abhängigkeit des Kapitals von den das Kapital verwaltenden und die Produktion entwickelnden Menschen entstanden” sei, “als sie zwischen dem ‚Arbeitgeber’ und seinem im Lohn- und Gehaltsverhältnis stehenden ‚Beschäftigten’ besteht.”

Auf gut deutsch heißt das also, dass die Unternehmer heutzutage von den Arbeitern und An-gestellten genau so abhängig seien, wie diese von den Unternehmern!

Soweit uns bekannt ist, hat aber nach wie vor der Unternehmer die volle Möglichkeit, seine “Arbeiter zu zehn- und Hunderttausenden auf die Strasse zu setzen”, “wenn die Geschäftslage dies erfordert”, liegt also Sein oder Nichtsein der Arbeiter in der Entscheidungsgewalt der Kapitalistenklasse; dagegen ist uns keinerlei Tatsache bekannt, die auf eine gleiche Abhän-gigkeit der Unternehmer von den Arbeitern hindeuten würde.

Klingelhöfer mag mit seiner Theorie vielleicht ein geneigtes Ohr bei solchen Bundestagsab-geordneten finden, die seit 1945 kein Arbeitshaus mehr betreten haben, aber wohl kaum bei den Zehntausenden Bergarbeitern, die zu Feierschichten gezwungen werden, und erst recht nicht bei den rund 2 Millionen Erwerbslosen in Westdeutschland und Westberlin!

Und wenn Genosse Aufhäuser im 3. Reuterbrief feststellen muss, dass sich seit der Wäh-rungsreform 1948 “die Neubildung der Betriebsvermögen auf Kosten der Lohn- und Ge-haltsempfänger” vollzog, dass ferner “die Großunternehmer in Industrie und Landwirtschaft auf den Gebieten der Preis- und Steuerpolitik und der sogenannten Selbstfinanzierung eine geradezu beispiellose Begünstigung bei der Neubildung von Betriebskapital erfahren” haben, dann scheint uns das doch eine eindeutige Bestätigung der Marxschen Feststellung zu sein, dass der kapitalistische Produktionsprozess und eine ebenso eindeutige Widerlegung der Klingel-höfer’schen zweckoptimistischen Behauptung, die soziale Frage sei in allen kapitalistischen Industriestaaten der Welt auf dem Wege zur Lösung”.

Die Leichtigkeit, mit der sich Klingelhöfer über alle Erfahrungen der Vergangenheit und alle Tatsachen der Gegenwart hinwegsetzt, ist geradezu erstaunlich.

Er behauptet, heute sei im kapitalistischen Betrieb “das Team” wichtiger geworden als das “Kommando”. Er spricht von der “Vergesellschaftung auch des variablen Kapitals”, wodurch angeblich das Entstehen einer “produktivitätsfördernden Betriebssolidarität ermuntert” würde.

Man denke:

1918 eroberten sich die deutschen Arbeiter in der Novemberrevolution weitgehende politische und soziale Rechte. Inzwischen sind 36 Jahre vergangen. Wie ist die Stellung der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik heute im Vergleich zu der von 1918 – 1933? Rechtfertigt die Entwicklung von fast 4 Jahrzehnten die Klingelhöfersche Selbstzufriedenheit? In keiner Weise! Obwohl die politischen und ökonomischen Grundlagen der Macht des Besitzbürgertums 1945 in unvergleichbar stärkerem Masse in Frage gestellt waren als 1918, hat die organisierte Ar-beiterschaft heute bei weitem nicht den Einfluss, den sie in der Weimarer Republik hatte!

Das Betriebsverfassungsgesetz ist im Vergleich zum Betriebsrätegesetz der Weimarer Zeit ein erheblicher Schritt zurück.

Die Gewerkschaften befinden sich in Verteidigungsposition gegenüber den massiven Gleich-schaltungs- und Verstaatlichungsversuchen der großkapitalistischen Bundesregierung.

Die Monopole kaufen ungeniert politische Macht, benutzen also ihre heute wie damals erhalten gebliebenen ökonomischen Machtpositionen dazu, das demokratische Votum des Volkes zu verfälschen und in das Parlament und die Regierung ihre Vertreter zu bugsieren.

Die sozialen Gegensätze werden nicht gemildert, sondern spitzen sich gefährlich zu.

Symptomatisch dafür ist die rasch wachsende Zahl von Lohnkonflikten, Tarifkündigung und Streikkämpfen. Die hartnäckige Weigerung der Unternehmer, trotz steigender Gewinne die berechtigten Forderungen der Arbeiter nach Anpassung ihrer Löhne an die gestiegenen Le-benshaltungskosten anzuerkennen, sieht ganz und gar nicht wie eine Illustration zu Klingel-höfers “Betriebssolidarität”, sondern viel eher zu Karl Marx’ Mehrwerttheorie aus.

Also auch unsere jüngste Geschichte beweist nicht weniger als die etwas länger zurückliegende Geschichte aller Industrieländer, dass die Hoffnung auf Verwirklichung der sozialen Freiheit und Gleichheit lediglich auf dem Wege über die staatsbürgerliche Freiheit und Gleichheit eine verhängnisvolle Fehlorientierung ist.

Kein Volk hat für diese Fehlorientierung grausamer bezahlen müssen, als das deutsche. Die 12 Jahre der Hitlerdiktatur waren die Quittung der Geschichte für das, was wir zur Sicherung der politischen Freiheit zu tun unterließen, (und was wir auch bis jetzt noch nicht nachgeholt haben!) nämlich, das ö k o n o m i s c h e Fundament für die p o l i t i s c h e Freiheit zu schaffen, einen ersten Schritt voran zur Verwirklichung der sozialistischen Freiheitsidee zu tun!

Klingelhöfer macht den gefährlichen Versuch, diese Zusammenhänge zu verdunkeln, indem er die Herrschaft des Faschismus in Italien und Deutschland in unglaublich schnoddriger Weise als “historische Unglücksfälle Mitteleuropas” abtut. So kann nur jemand sprechen, der von vornherein die Wiederkehr solcher “Unglücksfälle” in seine Kalkulation einbezieht, anstatt gerade alle Überlegungen darauf zu richten, wie dem Faschismus für immer der Weg verlegt werden kann. Und tatsächlich nimmt Klingelhöfer die Möglichkeit eines neuen Faschismus in der Bundesrepublik mit erstaunlicher Gelassenheit hin.

Nachdem er nämlich feststellte, dass Hitler durch das “Verhalten der Gruppen um Kirdorff und Thyssen, betreut von Dr. Schacht an die Macht gebracht” wurde, fährt er fort:

“Und es gibt absolut keine Garantie dafür, dass nicht eines Tages die funktionslosen Kapita-listen, die heute wieder so gut gedeihen, nicht wieder anderer Meinung sein werden”.

Dieser absolute Mangel einer Garantie vor der Wiederkehr des Faschismus berechtigt Klin-gelhöfer wohl zu der zuversichtlichen Feststellung, dass “in allen kapitalistischen Industrie-staaten der Welt die soziale Frage auf dem Weg der Lösung ist” ?!

Die einzige Möglichkeit, einen neuerlichen Machtantritt des Faschismus zu verhindern, sieht Klingelhöfer in Folgendem: “Die Unterscheidung liegt nämlich in der Frage, wofür die Lei-tungsfunktionäre aller privaten und auch öffentlichen und sozialen Produktions- und Vertei-lungssphären sich entschließen: gegen oder für die Freiheitsidee im Industriezeitalter”.

Mit anderen Worten: Die Entscheidung über Demokratie oder Faschismus liegt nach Klin-gelhöfer in den Händen derer, die sich 1933 für den Faschismus entschieden und heute bereits wieder diesmal über EVG und Wehrpflichtgesetz das Gewaltinstrument für die Wiederholung dieser Entscheidung schmieden. Zu erwarten, dass diese Kreise sich “für” und nicht wiederum “gegen” die “Freiheitsidee” entscheiden würden, heißt einfach an Wunder glauben.

Mit dieser Feststellung, dass die weitere Entwicklung davon abhängig sei, ob sich die Herren der Monopole (so muss man ja wohl “Leitungsfunktionäre aller privaten Produktions- und Verteilungssphären” in allgemeinverständliches Deutsch übersetzen) für oder gegen die “Freiheitsidee” entscheiden, bestätigt Klingelhöfer, was wir oben bereits feststellten, nämlich, dass er zwar ab und zu “sozialistische Freiheitsidee” sagt, aber etwas ganz anderes meint: denn soviel Naivität, die Möglichkeit für denkbar zu halten, diese Kreise könnten sich für eine so-zialistische Alternative entschließen, wird er wohl kaum irgendeinem seiner Leser zumuten.

Uns aber geht es wirklich um die sozialistische Freiheitsidee! Ihre Verwirklichung können wir niemals vom guten oder bösen Willen ihrer hochkapitalistischen Todfeinde erwarten. Sie kann nur im Kampf gegen sie verwirklicht werden.

Wenn für Gustav Klingelhöfer die Entscheidung nur bei den kapitalistischen “Leitungsfunk-tionären” liegt, und die Aufgabe der Sozialdemokratie infolgedessen darin bestehen soll, diesen Leitungsfunktionären gut zuzureden, sich “für” und nicht “gegen” die “Freiheitsidee im In-dustriezeitalter” zu entscheiden – (wobei selbst Klingelhöfer sich ausdrücklich hütet, einen Erfolg solcher Bemühungen zu garantieren!) – liegt nach unserer festen Überzeugung die Entscheidung ganz woanders: Bei denen, für die die Verwirklichung der sozialistischen Frei-heitsidee – ohne Anführungsstriche! ihre eigene Befreiung, die ihres Menschentums von den Fesseln kapitalistischer Abhängigkeit und Ausbeutung bedeutet, bei der Arbeiterschaft in al-lererster Linie.

Bei ihr liegt auch eine – die einzige! – zuverlässige Garantie gegen das Wiederkommen des Faschismus.

Wird sind also der Auffassung, dass der sozialistische Freiheitsbegriff heute noch den gleichen Inhalt hat, den ihm Marx vor 100 Jahren gab, und dass in allen kapitalistischen Ländern die gefährlichsten Feinde jeglicher Freiheit, auch der nur politischen, staatsbürgerlichen Freiheit! – die Industrie- und Finanzherzöge sind.

Dabei muss aber noch eine wichtige Frage beantwortet werden: Klingelhöfer schreibt – und darin stimmen wir ihm zu:

“Alle Erwägungen um ein Grundsatzprogramm der SPD bleiben jedoch unvollständig, wenn sie die Auswirkungen der neuen Welt [ ] zwischen Ost und West auf Deutschland außer acht lassen.”

Klingelhöfer und seine Freunde ziehen daraus die Schlussfolgerung vom “Primat der Außen-politik” gegenüber der Innenpolitik (Sering), und begründen damit die Forderung, dem Kampf gegen die Bedrohung der Freiheit durch die Sowjets die innerpolitischen Differenzen zwischen Arbeit und Kapital unterzuordnen.

Klingelhöfer sagt das so:

“Es hat sich als falsch erwiesen, dass die Interessen der Arbeiter und des Kapitals immer noch mit Notwendigkeit einander entgegengesetzt sein müssen … Muss nicht deutlich gesagt wer-den, dass die Interessen der Arbeiter und des Kapitals beispielsweise in der Abwehr des kalten Krieges der Sowjets voll identisch sind?” (Klingelhöfer im ersten Reuter-Brief).

Hier liegt bereits ein gefährlicher Trugschluss vor! Niemand wird bestreiten, dass die in der westlichen Welt herrschende Ordnung und der dort gültige Begriff der Freiheit durch die Entwicklung im Osten bedroht sind. Aber – das wurde schon des öfteren ausgesprochen – die kommunistische Bedrohung ist viel weniger eine militärische als eine politische – geistige und soziale. Kein westlicher Militärwerber in Bonn, Paris, London oder Washington glaubt im Ernst daran, dass die Sowjets sich in Europa in das Abenteuer einer militärischen Aggression stürzen werden, sosehr man auch zum Zwecke der reibungslosen Bewilligung der enormen Rüstungsbudgets periodisch der Bevölkerung vor einer solchen Möglichkeit das Gruseln bei-zubringen sucht.

Dennoch ist die Gefahr der Ausbreitung des Kommunismus eine reale Gefahr, wie das Beispiel Frankreichs und Italiens zeigt.

Aber hieraus lässt sich bei klarer Überlegung keine “Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Arbeit und Kapital” entnehmen, im Gegenteil!

Der Vormarsch des Kommunismus ist nur dort unaufhaltbar, wo es nicht gelingt, den arbei-tenden Menschen soziale Sicherheit zu bieten, wo die besitzende Klasse, um es mit einem Wort des “Kommunistischen Manifesten” zu sagen, “unfähig ist zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern”.

Wir fügen hinzu: Und wo es der Sozialdemokratie nicht gelingt, die sozialistische Freiheitsidee auf dem von ihr erstrebten demokratischen Wege zu verwirklichen!

Klingelhöfers “Lösung” heißt: Verzicht auf den Kampf um die sozialistische Lösung im Innern im Interesse des gemeinsamen Kampfes von Arbeiter und Kapitalist gegen den kommunisti-schen Osten.

Wir behaupten, dass dies der sicherste Weg zum Sieg des Kommunismus auch bei uns ist! Weil dieser Weg nämlich einerseits Verschärfung der sozialen Not und der sozialen Gegensätze, andererseits die restlose Kompromittierung der Sozialdemokratie in den Augen der schaffenden Menschen bedeutet.

Denn – sooft auch die Sozialdemokratie schon auf den Klassenkampf von unten verzichtet hat, (Burgfrieden, Arbeitsgemeinschaft usw.) – noch immer wurde dabei den Arbeitern das Fell gegerbt!

Nicht anders heute: Die Zustimmung zur EVG-Politik würde der Sozialdemokratie die Hände gegenüber dem westdeutschen Monopolkapital binden , und es ihr unmöglich machen, für eine wirklich sozialistische Lösung der soziale Frage zu kämpfen.

Um es überspitzt und paradox zu sagen:

Die gefährlichsten Verbündeten der Kommunisten im Inneren – sind die Kapitalisten! Ihr un-heilbares egoistisches Profistreben schafft erst den Nährboden, auf dem kommunistische Pro-paganda gedeihen kann. Wer deshalb den Kommunismus wirksam bekämpfen will, kann nicht Fürsprecher einer Aufrüstung gegen den Osten sein, – ganz gleich unter welchem Vorzeichen, am wenigsten aber im Zeichen der Wasserstoffbombe! – sondern muss die Kommunisten im Kampf um soziale Gerechtigkeit, im Kampf gegen das Großkapital übertreffen! Entweder – die Sozialdemokratie vermag ihr Bemühen um die Verwirklichung der sozialistischen Freiheitsidee den Massen durch ernste Taten glaubhaft zu machen – oder aber sie wird ruhmlos untergehen!

Die These vom Primat der Außenpolitik ist deshalb eine falsche These.

An ihre Stelle muss gesetzt werden die These vom Primat der sozialistischen Freiheitsidee.

Je nach dem, von welcher Seite – von innen oder von außen – die sozialistische Freiheitsidee der gefährlichsten Bedrohung ausgesetzt ist, muss die Sozialdemokratie die Hauptstoßrichtung ihres Kampfes gegen diese Seite lenken.

Wer will angesichts der großkapitalistischen Restauration in Westdeutschland und der selbst nach Klingelhöfer dort möglichen faschistischen Restauration behauten, dass die Hauptgefahr ein für allemal von außen kommen müsse?

Ja, es kann mit guten Gründen angezweifelt werden, dass sie heute von außen droht, wie das von Klingelhöffer und seinen Freunden behauptet wird.

Nehmen wir z. B. Westberlin:

Jahrelang nehmen wir gemeinsam mit allen bürgerlichen Parteien unter der Devise der Ver-teidigung der Freiheit die Frontstellung gegen den Osten ein, gingen mit diesen Parteien durch Dick und Dünn.

Wenn wir heute Bilanz ziehen und uns fragen: Was hat die sozialistische Freiheitsidee dabei gewonnen? – dann können wir zwar darauf hinweisen, dass die Insel Westberlin noch immer standgehalten hat – aber wer hat davon profitiert? Was haben wir an wichtigen politischen und sozialen Errungenschaften – also an Ansatzpunkten für weitergreifende sozialistische Ver-wirklichungen – nicht alles geopfert und preisgegeben, um schließlich auch noch die Leitung der Verwaltung zu verlieren! Von der Schulreform angefangen über die Sozialversicherung und das 131er-Gesetz stehen wir überall vor den Trümmern einst so hoffnungsvoll begonnener Projekte, und es ist ein schwacher Trost für die Westberliner Bevölkerung, dass auf diesen Trümmern geschrieben steht: Geopfert dem Kampf für die Freiheit!

Hat die Freiheit wirklich dabei gewonnen! Ist sie heute nicht in viel größerem Masse bedroht als je! Uns will es jedenfalls so scheinen. Die Kommunistische Bedrohung ist nicht geringer, sondern größer geworden. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, dem kann nicht ent-gangen sein, dass sich bereits die ersten Anzeichen einer umgekehrten Ausstrahlung bemerkbar machen. Die Immunität erheblicher Teile der Westberliner Bevölkerung, vor allem der Ar-beitslosen, gegenüber den kommunistischen Propagandaparolen lässt nach. Es erweist sich daran nur, was wir schon vorhin sagten: Jedes Erstarken der restaurierten großkapitalistischen Kräfte muss dem Kommunismus überall da neue Kräfte zuführen, wo die Sozialdemokratie darauf verzichtet, den vom Kapital Ausgebeuteten eine klare antikapitalistische, sozialistische Alternative zu zeigen und um sie zu ringen.

Aber – so groß auch die Gefahr von Seiten der Kommunisten – vor allem auch dank der Nachbarschaft des Ostsektors von Berlin – sein mag, der sozialistischen Freiheitsidee und der Demokratie schlechthin droht eine viel akutere Gefahr durch die rücksichtslose [ ] der groß-kapitalistischen Parteien des Schreiber-Senats. Und im Hintergrund lauert bereits wieder eine durchaus ernstzunehmende Bedrohung der Demokratie durch faschistische Kräfte vom Schlage des Stahlhelms und der andere Früchte vom Stamme der NSDAP. Es wäre verbrecherischer Leichtsinn, solche Symptome wie die geplante Januarkundgebung Kesselrings und die durchgeführte Aprilkundgebung Manteuffels zu übersehen oder zu bagatellisieren.

So hat also die von Klingelhöfer und anderen geforderte Politik hier in Berlin, wo sie ja im Prinzip schon lange praktiziert wurde, lediglich dazu geführt, dass die Position der SPD von beiden Seiten, von links und von rechts – von rechts sogar viel stärker als von links! – angegriffen und eingeengt wurde.

Wodurch sind wir in diese Lage gekommen! Dadurch, dass wir eben nicht die sozialistische Freiheitsidee, sondernden Antikommunismus zur alleinigen Richtschnur unseres Handels werden ließen! Sicherlich gehört zum Kampf um die Freiheit auch die Abwehr der diktatori-schen Bestrebungen der Kommunisten. Aber er erschöpft sich nicht darin. Sonst gerät man schließlich in die peinliche Lage, die Freiheit Arm in Arm mit den faschistischen Henkern der Freiheit, mit Nazi-Generälen und mit einem Franco zu “verteidigen”! Und dabei geht dann allerdings früher oder später die Glaubwürdigkeit der Freiheitslösungen zum Teufel.

 

[Ab hier gekürzt]

Deshalb macht eine Politik, die ernsthaft die Verwirklichung der sozialistischen Freiheitsidee anstrebt, auch eine Überprüfung unserer Stellung zu den Kommunisten notwendig. Dabei geht es natürlich nicht um die Aufgabe unserer grundsätzlichen Einwendungen gegen das kommu-nistische Programm und seine Verwirklichung in den Oststaaten, sondern um die Überprüfung unserer Taktik gegenüber den Kommunisten nach innen und außen.

Was das Verhältnis zu den kommunistischen Staaten, insbesondere zur SU anbelangt, so hat der Parteivorsitzende Ollenhauer diese Überprüfung bereits mit seiner Forderung der Kon-taktaufnahme mit eingeleitet. Nach innen gesehen aber liegt über jeder Kontaktaufnahme mit Kommunisten noch immer der Bannstrahl. Wir fürchten uns sogar, Forderungen der Kommu-nisten an Adenauer oder Schreiber, und mögen sie noch so berechtigt sein, zu unterstützen, weil wir glauben, dadurch in gefährliche Nähe der Kommunisten zu geraten. Aber haben wir ei-gentlich keine Furcht davor, durch offizielle Besprechungen mit prominenten Führen der mi-litärischen Soldatenbünde, wie sie ja doch schon mehrfach stattgefunden haben, “in gefährliche Nähe der Militaristen und Faschisten” zu geraten? Sind etwa ehemalige Nazigenerale natürli-chere Gesprächspartner für einen Sozialdemokraten, als von Hitler verfolgte Kommunisten?

Wir sind auf den Vorwurf gefasst, durch eine solche Fragestellung den Kommunisten Vorschub zu leiten. Uns geht es jedoch nicht um die Kommunisten, uns geht es um die Sozialdemokra-tische Partei. In dieser Partei ist allerdings etwas nicht gesund, wenn wir uns an eine Bünd-nispartnerschaft mit Leuten als an eine Selbstverständlichkeit gewöhnt haben, deren faschis-tische Vergangenheit und deren unveränderte faschistische Gesinnung in der Gegenwart er-wiesen sind, während allein der Gedanke, mit Kommunisten auch ein Gespräch zu führen, als Ketzerei gilt.

Man entgegnet uns darauf, jedes Zusammengehen mit Kommunisten müsse unterbleiben, weil dadurch nur die kommunistische “Aktionseinheit” unterstützt würde, bei der die Kommunisten unter dem Aushängeschild gemeinsamer Aktionen nur ihr eigenes Parteisüppchen kochen wollten.

Es versteht sich für uns von selbst, dass die Kommunisten, wenn sie “Aktionseinheit” vor-schlagen, dabei nur ihren eigenen Nutzen im Auge haben.

Aber was ist das für ein seltsamer Einwand? Gehen etwa die bürgerlichen Parteien mit uns Koalitionen ein, um sich selbst zu schaden und uns zu nützen? Ist es nicht umgekehrt bisher immer so gewesen, dass am Ende bei solchen Heiraten wir immer übers Ohr gehauen wurden?

Ist es nicht ein ABC der Politik, dass beim Zusammengehen verschiedener politischer Kräfte jede Seite gerade durch das Zusammengehen zu gewinnen hofft?

Und wenn der Vorsitzende des deutschen Soldatenbundes, Admiral Hansen mit dem Vorsit-zenden unserer Partei, Genosse Ollenhauer, verhandelte, will uns etwa jemand glauben machen, dass er dabei nicht die Interessen der hinter ihm stehenden großkapitalistischen und militaristischen Kreise, sondern die Interessen der Sozialdemokratie im Auge hatte?

Warum werden keine Bedenken laut, dass durch solche Gespräche die Militaristen und Fa-schismus wiederum Oberwasser gewinnen könnten, Bedenken, denen übrigens eine gewisse Berechtigung durchaus nicht abgesprochen werden kann? (Ganz abgesehen davon, dass solche Besprechungen auch den Kommunisten überflüssigerweise billige Agitationsmaterial gegen uns liefern!)

Wenn wir solche Überlegungen anstellen, dann ziehen wir daraus durchaus nicht den Schluss, die SPD müsse jetzt etwa ein sofortiges Kampfbündnis mit den Kommunisten eingehen. Aber wir werden uns entscheiden dagegen, dass es für Sozialdemokraten grundsätzlich verboten sein soll, ein Übereinkommen mit den Kommunisten zu treffen, sogar selbst dann verboten sein soll, wenn ganz offensichtlich auf andere Weise keine Aussicht besteht, unsere sozialdemokratische Forderung und Ziele zu erreichen. Vor solchen Situationen aber werden wir immer stehen, solange wir den Kampf um die Verwirklichung der sozialistischen Freiheitsidee gegen deren kapitalistische Widersacher führen müssen. In Berlin z. B. werden wir den Schreiber-Senat und seine reaktionäre Politik nicht schachmatt setzen können, wenn nicht die ungebrochene und ungeteilte Kraft der Berliner Arbeiter gegen ihn eingesetzt wird. Es wäre daher u. E. ein Fehler, wollte man der Teilnahme der SED an den Herbstwahlen von unserer Seite ein Hindernis in den Weg legen. Wenn uns entgegengehalten wird, dass wir auf diese Weise nur helfen würden, den Einfluss der Kommunisten zu vergrößern, dann muss doch gefragt werden: Woher eigentlich diese Furcht? Wo steht denn geschrieben, dass nicht wir Sozialdemokraten unseren Einfluss vergrößern, wenn wir für bestimmte, genau abgegrenzte Ziele, die im Interesse der schaffenden Menschen liegen, mit den Kommunisten zusammen gehen?

Ist eine solche Furcht nicht Ausdruck des Zweifels an der Durchschlagkraft unserer Idee?

Wir werden selbstverständlich niemals darauf verzichten, von unseren Positionen aus die schärfste Kritik zu üben an all dem, was uns an den Methoden in der kommunistischen Politik und der kommunistischen Herrschaft in der Ostzone, im Osten überhaupt, verwerflich erscheint. Aber gerade weil wir davon überzeugt sind, dass der von uns gewiesene Weg zur Verwirklichung des Sozialismus der einzig richtige ist, sind wir auch überzeugt davon, dass wir im Ringen um den arbeitenden Menschen den Sieg davontragen werden.

Was aber für uns das Wichtigste ist: Wir müssen nicht noch einmal erleben, dass wir Sozial-demokraten uns mit den Kommunisten in faschistischen Zuchthäusern und Konzentrationsla-gern über unsere Differenzen auseinandersetzen müssen, weil wir uns nicht rechtzeitig über den Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu verständigen versuchten!
Fassen wir zusammen:

1. Wir sind der Meinung, dass die sozialistische Freiheitsidee das feste Fundament unserer Politik darstellen muss.

2. Wir meinen dabei wirklich die unverfälschte sozialistische Freiheitsidee, die nicht nur den Katalog der Menschenrechte, sondern auch die ökonomische Untermauerung der politischen Freiheit, die Freiheit von Ausbeutung, umschließt.

3. Wir halten die Konzeption Klingelhöfers und seiner Freunde für zutiefst falsch und vergeb-lich, weil sie in Wirklichkeit die Freigabe der sozialistische Freiheitsidee bedeutet, indem sie die SPD zum linken Flügel aller restaurativen, antisozialistische Kräfte macht, statt zum Mittelpunkt aller antikapitalistischen, sozialistischen Kräfte.

4. Klingelhöfer erhofft sich von seiner Konzeption eine “Erneuerung” der SPD. Davon kann keine Rede sein. Die Anbiederung bei Adenauer und dessen amerikanischen Gönnern bedeutet keinerlei Garantie dafür, dass die SPD von diesen Kreisen zu gegebener Zeit nicht wieder – wie 1933 – über Bord geworfen wird; sie führt aber mit Sicherheit zum Verlust des Vertrauens bei den arbeitenden Menschen und überlässt den Kommunisten das Monopol als einzige antika-pitalistische und antifaschistische Kraft.

5. Deshalb gilt es innerhalb der Partei einen entschiedenen Kampf gegen diese, vor allem in den “Reuter-Briefen” verbreiteten Auffassungen zu führen, und bei allen Genossen das Bewusstsein dafür zu wecken, dass es bei dieser Auseinandersetzung um Sein oder Nichtsein der Partei geht.

6. In der praktischen Politik der Partei muss der Kampf um die sozialistische Zielsetzung wieder die Vorrangstellung erhalten, die allein die Erreichung dieser Ziele gewährleistet. Das macht erforderlich, dass die Partei unter den gegebenen Umständen in Westberlin und West-deutschland im Innern den Kampf führt vor allem gegen den immer stärker werdenden Klas-senkampf von oben, sowie gegen die Adenauersche Remilitarisierung im Zeichen der EVG.

Darüber hinaus aber darf das Ziel der Ökonomischen Sicherung der politischen Rechte und Freiheiten nicht aus dem Auge gelassen werden; vielmehr müssen alle Schritte der Partei unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, ob sie uns der Erreichung dieses Ziele näherbringen.

Nur so werden wir die sozialistische Freiheitsidee verwirklichen können.

 


 

 

Anmerkungen:
( 1 ) Karl Marx, Kapital, Bd. I, S. 602
( 2 ) Ebd., S. 184
( 3 ) Ebd., S. 316
( 4 ) Ebd., S. 606

Erschienen in: Dieter Kraft (Hrsg.) Aus Kirche und Welt – Festschrift zum 80. Geburtstag von Hanfried Müller, <Verlegt von Brigitte Tiede, Druckerei Well> Berlin, 2006, S. 386-401