Einige Gedanken zum Faschimus gestern und heute

Kurt Gossweiler

EINIGE GEDANKEN ZUM FASCHISMUS GESTERN UND HEUTE

Am Sonntag, dem 16. November, dem so genannten Volkstrauertag, hatte ich ein Erlebnis auf dem Grünauer Friedhof, von dem ich sicher war, dass es an keinem Ort der DDR mehr stattfinden könnte:

Ein Dutzend-Trupp junger kurz geschorener Leute versammelte sich vor dem dort die vierzig Jahre un-beachtet stehen gebliebenen Gedenkstein für die Gefallenen des ersten Weltkrieges und zelebrierte laut-stark eine “Heldengedenkfeier”, in der vor allem des “Weltkriegshelden” Adolf Hitler gedacht wurde.

Natürlich weiß jeder von uns, dass so etwas in der Alt-BRD schon lange Brauch war und nun auch auf DDR-Gebiet zum Alltag für einen Kreis von Jugendlichen geworden ist, den man nicht mehr als zah-lenmäßig unbedeutend abtun kann. Aber es macht schon einen Unterschied für das eigene Gemüt, ob man davon in der Zeitung liest oder ob man dem plötzlich und unerwartet gegenübersteht. Das sind sie also, jene 14-20jährigen, die 50 Jahre, nachdem ihresgleichen millionenfach für den Raubkrieg des deutschen Imperialismus in den Tod gejagt wurden, wieder bereit sind, sich auf den Befehl eines obers-ten Kriegsherren auf andere Völker zu stürzen, um für den großdeutschen Imperialismus die Wege zu den Rohstoffquellen der Welt freizukämpfen.

Wir haben also wieder einmal Gelegenheit, die auch unter marxistischen Historikern so heiß umstrittene Frage, ob faschistische Bewegungen wirklich als spontane Massenbewegungen ohne das Zutun der herrschenden Klasse, als dumpfe Protestbewegung von unten entstehen, am lebendigen Objekt zu be-obachten und zu entscheiden.

Dabei ist nicht fraglich, dass der Zulauf zu den faschistischen Parteien und Bewegungen sich in der Mehrzahl aus Leuten rekrutiert, die mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden sind und gegen sie protestieren und sie verändern wollen; mehr als fraglich ist jedoch, dass diese Unzufriedenen aus den Reihen des Kleinbürgertums und Teilen der Arbeiterschaft aus sich heraus spontan die faschistische Ideologie und Zielsetzung und die Fähigkeit zur Schaffung einer riesige Mittel erfordernden Massenor-ganisation hervorbringen. Mehr als fraglich deshalb, weil am Beispiel der NSDAP DDR-Historiker wie Joachim Petzold, Wolfgang Ruge, Kurt Pätzold, Manfred Weißbecker und andere, darunter auch ich, nachgewiesen haben, in welchen Kreisen und von welchen Ideologen der herrschenden Klasse die Ideen einer “nationalen Diktatur”, die sich auf eine “nationale Arbeiterpartei” stützen müsse, geboren wurden und auf welchem Wege diese Ideen in die Wirklichkeit umgesetzt wurden.

Sehr aufschlussreich für die Klärung des Verhältnisses von herrschender Klasse, Massen und Faschis-mus ist auch ein Vergleich der Entwicklung der Nazipartei in der Weimarer Republik mit derjenigen der neonazistischen Parteien und Gruppen und der BRD.

Von 1929 an bis zu den Juli-Wahlen 1932 stiegen die für die NSDAP abgegebenen Stimmen von Wahl zu Wahl sprunghaft an, und zwar, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, in allen Ländern der Re-publik.

Ein ganz anderes Bild zeigen die Wahlergebnisse für die Neo-Naziparteien – NPD und Rep – in der Alt- und Neu-Bundesrepublik. Da blieben sie jahrelang weit unter der 5-Prozent-Hürde, um dann plötzlich in einigen Ländern einen bisweilen enormen Sprung über diese Hürde zu nehmen und danach wieder weit darunter zu fallen.

Nur zur Erinnerung: im Gefolge der Wirtschaftskrise von 1966/67 gelangte die 1964 gegründete und bis dahin fast bedeutungslose NPD bei Wahlen zu zehn Landtagen in nicht weniger als sieben von ihnen und erreichte bei der Bundestagswahl von 1969 immerhin 4,3 Prozent. Aber schon bei der nächsten Landtagswahl – in Bayern – fiel sie zugunsten der CSU wieder weit zurück.

Ähnliches beobachten wir bei den 1983 gegründeten “Republikanern”, den “Reps”. 1986 errangen sie schon 3 Prozent bei den bayrischen Landtagswahlen, im Januar 1989 bei der Wahl zum Berliner Abge-ordnetenhaus gar 7,5 Prozent, im Juni 1989 bei der Europawahl noch einmal 7,1 Prozent. Danach, 1990, blieben sie bei allen Landtagswahlen zumeist weit unter 5 Prozent, lediglich in Bayern kamen sie in die Nähe der 5-Prozent-Hürde. Zwei Jahre später aber erreichen sie in Baden-Württemberg bei den Land-tagswahlen am 5. April fast triumphale 10,9 Prozent!

Dieser Unterschied in der Kurve der Wahlergebnisse für die NSDAP in der Weimarer Republik und für die führenden Neo-Naziparteien in der BRD verlangt nach einer Erklärung; dies umso mehr, wenn wir berücksichtigen, dass die Meinungsforscher darin übereinstimmen, dass es in der BRD ein rechtsextre-mes Potential gibt, das eher wachsende als abnehmende Tendenz zeigt und auf jeden Fall dauerhaft erheblich über fünf Prozent der Wahlberechtigten liegt. Warum findet dies keinen dauerhaften Nieder-schlag in den Wahlergebnissen?

Dabei sind sicherlich mehrere Faktoren im Spiel – etwa Veränderungen in der Konjunkturlage, Wirkun-gen des antifaschistischen Abwehrkampfes, Rivalitäten und Konkurrenzkämpfe zwischen den neo-faschistischen Organisationen, das Fehlen einer Integrationsfigur und anderes, was dafür ins Feld ge-führt werden kann. Das alles scheint mir aber nur sekundär zu sein gegenüber der Tatsache der völlig anderen Funktion der faschistischen Bewegungen für die herrschende Klasse der Bundesrepublik ge-genüber deren Funktion in der Weimarer Republik.

Damals hielt es die deutsche Monopolbourgeoisie noch für möglich, den im ersten Weltkrieg geschei-terten Waffengang zur Erringung der Weltmachtstellung in einer besser vorbereiteten Wiederholung zum Erfolg zu führen. Voraussetzung dafür war aber die Liquidierung der Fesseln des Versailler Ver-trages und der parlamentarischen Demokratie und die Errichtung einer diktatorischen Staatsverfassung, die keinerlei Widerstand gegen den neuen Kriegskurs zuließ. Der Misserfolg des Kapp-Putsches hatte gelehrt, dass man zur Diktatur nur auf legalem, verfassungsmäßigem Wege kommen konnte, wollte man nicht das Risiko eines Bürgerkrieges mit ungewissem Ausgang laufen. Ein legaler Übergang zur Diktatur erforderte aber eine parlamentarische Ermächtigungs-Zweidrittel-Mehrheit. Die konnte nur durch eine große Massen anziehende Rechtspartei beschafft werden. Wie die NSDAP zu eben einer solchen Partei wurde, braucht hier nicht erneut dargestellt zu werden.

Ganz anders die Situation für die wiedererstandene imperialistische deutsche Bourgeoisie nach dem Scheitern auch des zweiten bewaffneten Griffs nach der Weltmacht und dem Befreiungskampf aller vom deutschen Faschismus unterdrückten Völker gegen eben diesen Faschismus.

Voraussetzung für das Überleben und Wiedererstarken des deutschen Imperialismus war nun die Un-terwerfung unter das Regime der klassenbrüderlichen westalliierten Sieger, das Abschwören jedes Ver-suches, den bisherigen “deutschen Sonderweg” noch einmal zu beschreiten, die Zustimmung zu einer “Entnazifizierung”, deren Rahmen die Sieger festlegten, und die Eingliederung in das sich bildende westliche Bündnissystem gegen die Sowjetunion.

Die Gegenleistung der Sieger bestand in der Hilfestellung für das Wiederentstehen des deutschen Impe-rialismus als Vorposten gegen die Sowjetunion und in der wohlwollenden Zustimmung zum Aufbau des neuen Staates mit den alten Nazi-Beamten, Nazi-Juristen, Nazi-Generalen und Nazi-Geheimdienstlern sowie in der Duldung der weiteren legalen Existenz von Nazi-Organisationen, sofern sie nicht den Na-men NSDAP und die Nazi-Symbole gebrauchten. In der Tat hat es in der Geschichte der BRD keine Zeit ohne legale Organisationen von Alt- und/oder Neo-Nazis gegeben.

Aber wozu wurden sie denn noch gebraucht? Welche Funktion hatten und haben sie denn noch zu er-füllen? Auf keinen Fall mehr die gleiche wie in der Weimarer Republik.

Einen dritten Anlauf zum bewaffneten Griff nach der Weltmacht braucht der neue großdeutsche Imperialismus nicht mehr zu riskieren, weil er inzwischen mit der D-Mark das “friedlich” erreicht hat, was zu erreichen Hitler und dem deutschen Generalstab mit seinen Panzern und Stukas nicht gelungen ist: die Sowjetunion gibt es nicht mehr, und Deutschland ist die Hegemonialmacht in Europa, der sich die europäischen Partner-Konkurrenten nolens-volens, knurrend, aber doch, unterordnen.

Eine bedrohlich starke neonazistische Partei in Deutschland könnte die Position des deutschen Imperia-lismus in Europa nur gefährden, wie die alarmierten Reaktionen der Bevölkerung und sogar mancher Regierungen auf die erwähnten Wahlerfolge der NPD und der Reps nur zu deutlich signalisierten. Das Expansionsziel des deutschen Imperialismus heißt jetzt: Europa-Union unter deutscher Hegemonie, und der Weg dazu: kapitalmäßige Durchdringung der schwächeren “Partner”, Fusion mit den anderen nach dem Beispiel, das uns gerade mit der Vereinigung der “Allianz” mit dem führenden französischen Ver-sicherungskonzern AGF vorgeführt wird. Ein solches Übereinkommen kann – wie Lenin schon 1916 in seinem Artikel über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa feststellte – nur die Verteilung des Einflusses und der Macht in dem neuen Konzern auf der Grundlage des eingebrachten Kapitals regeln. Die schwächeren europäischen Partner Deutschlands haben nur die Wahl zwischen der Aufrechterhal-tung der europäischen Zersplitterung, was früher oder später die Verwandlung in einen US-amerikanischen Satelliten bedeuten würde, oder dem wirtschaftlichen und später auch politischen Zusammenschluss zumindest West- und Mitteleuropas zu einer dem Wirtschaftsriesen USA und dem von Japan geführten ostasiatischen Wirtschaftsraum ebenbürtigen Wirtschaftsmacht, was jedoch ohne Akzeptanz der deutschen Hegemonie nicht zu erreichen ist. Die Teilnehmer am Unternehmen “Euro-pa-Union” sind zum Erfolg verdammt, soviel Widersprüche und Gegensätze dabei auch noch krisenhaf-te Situationen herbeiführen mögen.

Für die neonazistischen Organisationen bedeutet das gegenwärtig: Weil die Herrschenden aktuell keine allzu stark in Erscheinung tretenden faschistischen Parteien brauchen können, setzen sie ihr ganzes vielfältiges Instrumentarium der Einflussnahme ein – angefangen mit freundschaftlichen persönlichen Kontakten und Ratschlägen über finanzielle Einflussnahme bis hin zu staatlichen Eingriffen -, um die tatsächliche Stärke des bereits vorhandenen rechtsextremen Potentials nicht sichtbar werden zu lassen. (Daher sind neonazistische Mörder, Brandstifter und Schänder jüdischer Friedhöfe in den amtlichen Feststellungen in aller Regel “Einzeltäter”.)

Die Funktionen, für die die neonazistischen Organisationen heute brauchbar und nützlich sind, könnte man wie folgt charakterisieren:

Kanalisierung der unvermeidlich wachsenden Unzufriedenheit und des Protestes in rechte Bahnen, um ihre systemgefährdende Sprengkraft in systemstablisierende Gewalt gegen links und gegen jene Min-derheiten umzuwandeln, die auch der staatliche Gewaltapparat im Visier hat.

Ideologische Wegbereitung für den Umbau der Bundesrepublik in einen autoritären “Rechts”-Staat durch Propagierung von Nationalismus, Ausländerfeindlichkeit, Antikommunismus und Ruf nach dem “starken Staat, der mit harter Hand Ordnung schafft!”

Präparierung der öffentlich Meinung für eine Zustimmung zu expansiver Außenpolitik und militärischen Einsätzen der Bundeswehr in aller Welt.

Darüber hinaus bleibt der Faschismus aber in der politischen Rüstkammer des Imperialismus eine Re-servewaffe “für alle Fälle”. Die Herrschenden haben durchaus eine Ahnung davon, wie labil ihr System ist, wie brüchig seine Grundlagen und wie katastrophenschwanger seine Zukunft, wie sehr mit der Zu-spitzung sozialer Konflikte gerechnet werden muss.

Die sieben Jahre seit der Rückwärts-Wende, seit dem Ende der Systemkonkurrenz in Europa, haben durch den auf breiter Front vorgetragenen Sozial- und Demokratie-Abbau sehr nachdrücklich die vor über achtzig Jahren von Hilferding gefundene Erkenntnis bestätigt: Imperialismus – das ist Drang nach Reaktion und Gewalt; er ist dem Profitsystem immanent.

Etwas weniger krass und deutlich ausgesprochen ist diese Erkenntnis heute selbst da enthalten, wo sie nicht vermutet wird; so zum Beispiel in einem Interview mit Ludwig Elm (junge Welt Nr. 257 vom 5.11.97, Uni-spezial, S. 2) zum neuen Hochschulrahmengesetz, wenn er diesem Gesetz die Tendenz bescheinigt, “bisher erreichte demokratische Strukturen und Einwirkungsmöglichkeiten abzubauen” und dies darauf zurückführt, dass man “im Grunde betriebswirtschaftliche Führungsmethoden in der Uni-versität einführen will”; oder wenn Joachim Bischoff im ND vom 25./26. Oktober 1997 in seinem Arti-kel “Was folgt auf den Sozialstaat?” schreibt: “Die Konsequenz des Verdrängungswettbewerbs ist das Schleifen der Bürgerrechte”, und zur Bestätigung Ralf Dahrendorf mit den Worten zitiert, “dass not-wendigerweise der Polizeistaat die letzte Konsequenz eines solchen restaurativen Umbaus der Gesell-schaft ist”.

Diese Tendenzen sind nicht auf Deutschland beschränkt, sie sind mehr oder weniger stark in allen impe-rialistischen Staaten festzustellen. Die Maastricht-Kriterien erzwingen sie geradezu. Es ist daher nur folgerichtig, dass die Erbauer des Europa der Konzerne darangehen, für dieses Europa eine “Europol”, eine Europa-Polizei zu schaffen, die von keiner anderen Institution, schon gar nicht vom Euro-pa-Parlament, kontrolliert werden kann. Dieses Europa wird keine Friedenszone sein, weder nach innen noch nach außen: Der Versuch der Nivellierung des Lohnniveaus auf den im geeinten Europa niedrigs-ten Stand, der ja im vollen Gange ist, erzwingt die Gegenwehr über den nationalen Rahmen hinaus. Der verschärfte Kampf um die internationalen Absatz- und Finanzmärkte und um die abnehmenden Roh-stoffquellen führt zu internationalen Konflikten einerseits der imperialistischen Giganten USA, Ja-pan/Ostasien und Deutschland/Europa mit den Ländern der noch immer so genannten Dritten Welt, lässt andererseits aber auch interimperialistische Kriege wieder möglich werden. Solche Entwicklungen können dazu führen, dass ein neuer, europäisierter Faschismus wieder eine andere, aktivere Funktion gewinnen kann.

So unwahrscheinlich es ist, dass in Deutschland noch einmal ein national begrenzter Faschismus an die Macht gebracht werden könnte, so wenig kann ausgeschlossen werden, dass in einem Europa der Kon-zerne irgendwann einmal ein faschistisches Regime von den Herrschenden für erforderlich gehalten wird, mit einer inneren oder äußeren Krisensituation fertig zu werden. Solange es Imperialismus gibt, ist die Gefahr des Faschismus gegeben.

In dem Maße, wie die europäischen nationalen Imperialismen zu einem europäischen Imperialismus weniger zusammenwachsen als zusammengepresst werden, im gleichen Maße werden die natio-nal-faschistischen Parteien sich zu euro-faschistischen Parteien mausern müssen – was im übrigen den deutschen Neo-Nazis nicht so fremd ist, können sie doch an die Tradition der im Zeichen der Waf-fen-SS schon propagierten “Nation Europa” anknüpfen. Ihren deutschen Nationalismus werden sie zu einem Europa-Nationalismus ausweiten müssen, der sich gegen alle Völker und Mächte außerhalb der Festung Europa richtet, in erster Linie aber gegen die östlich und südlich ihrer Grenzen lebenden Völker.

Nach all dem Gesagten mag sich die Frage erheben: Ist denn überhaupt damit zu rechnen, dass es zu einem faschistischen Europa kommen kann?

Ausschließen kann das niemand. Aber zum Fatalismus gibt es keinen Grund, denn

Europa ist nicht Deutschland. Revolutionäre Traditionen, Traditionen des Kampfes gegen Tyrannei und für Demokratie, vor allem die Tradition des Kampfes gegen den deutschen Faschismus sind in den meisten Ländern der Europäischen Union stärker und viel lebendiger als in Deutschland;

die Niederlage des Sozialismus in der Sowjetunion und in Europa hat die Linke in Westeuropa nicht so schwer getroffen und geschwächt wie in Deutschland;

der Kampf gegen Maastricht, gegen das entstehende Europa der Konzerne, für ein Europa der Völker, obwohl erst in seinen ersten Anfängen, hat bereits sichtbar werden lassen, welch gewaltige Potenzen ein über die Grenzen hinweggehendes Zusammenwirken in sich birgt;

der Kampf für ein Europa der Völker ist seinem Inhalt nach ein Kampf für eine Alternative zum Kapita-lismus, auch wenn das den meisten Teilnehmern noch nicht bewusst ist, denn nur ein sozialistisches Europa kann ein Europa der Völker sein.

Er ist damit auch ein Kampf gegen die Kräfte, von denen die Gefahr des Faschismus primär ausgeht.

Bis zum Zweiten Weltkrieg war die größte erkannte Gefahr, die der Menschheit vom Imperialismus drohte, Faschismus und Krieg, weshalb die Alternativ-Formulierung: Sozialismus oder Barbarei, zu-treffend war. Sie ist es heute nicht mehr, weil die Fortdauer der Herrschaft des Imperialismus nun nicht mehr nur Krisen, Kriege und Faschismus heraufbeschwört, sondern die Vernichtung der Menschheit, weshalb die Alternative heute lautet: Sozialismus oder “Endlösung” für das Menschengeschlecht.

Das ist nun gewiss keine neue Erkenntnis, ich führe sie auch nur um ihrer Konsequenz willen an, die, meine ich, sein müsste: das ceterum censeo jedes Sozialisten – so unzeitgemäß das manchem auch scheinen mag – muss sein: Soll die Menschheit überleben, muss der Kapitalismus vom Sozialismus ab-gelöst werden. Und zwar bald! Die Zeit drängt!

Wer, wenn nicht jene, die sich Sozialisten nennen, sollte diese Botschaft tagtäglich und eindringlich an die Menschen herantragen? Das Gegenteil dessen ist es jedoch, wenn in der Zeitung, die den Untertitel “Sozialistische Tageszeitung” trägt, es fast schon zu einem obligatorischen Ritual geworden ist, sich Absolution für eine Kritik am gegenwärtig herrschenden realen Kapitalismus dadurch zu erkaufen, dass diese Kritik mit einem Fußtritt gegen die DDR eingeleitet wird.

Aber müssten die Erfahrungen mit nunmehr acht Jahren “Freiheitlich-demokratischer Grundordnung” – mit der Abschaffung des “unrechtsstaatlichen” Rechtes auf Arbeit und dessen Ersatz durch das “rechts-staatliche” Recht der Unternehmer zur “Freisetzung” von Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern in die Arbeitslosigkeit, ferner mit der Abschaffung des im “Unrechtsstaat DDR” selbstverständlichen Rechtes auf Wohnung und dessen Ersatz durch das “rechtsstaatliche” Recht der Immobilienhaie und Vermieter zur “Freisetzung” von nicht mehr zahlungsfähigen Mietern in die Obdachlosigkeit, um nur diese beiden freiheitlichen Segnungen zu nennen – müssten nicht allein diese Erfahrungen hinreichen, um zu verste-hen, dass es absolut keine verklärende DDR-Nostalgie darstellt, daran festzuhalten, dass die DDR trotz all ihrer Mängel und Gebrechen selbst noch in ihrer schlechtesten Zeit der bessere, menschlichere und somit auch demokratischere Teil Deutschlands war?

Wer wirklich Sozialist ist, der darf sich nicht scheuen, diese Wahrheit immer und überall der Verteufe-lung der DDR entgegenzusetzen.

Rede bei einem Symposion anlässlich des achtzigsten Geburtstages von Kurt Gossweiler am 5. November 1997, um die einleitenden Dankesworte gekürzt, zuerst erschienen in Weißenseer Blätter 1/98, S.60-64.