Kurt Gossweiler
BEGEGNUNGEN MIT ERICH MÜHSAM
Wir, sechs Berliner Jungkommunisten, trampten in den Sommerferien 1934 über das damals noch unter Völkerbundverwaltung stehende Saargebiet zu einem Treffen mit französischen Jugendgenossen nach Paris. Am 11. Juli, einem Mittwoch, bekam ich ein Auto, dessen Fahrer aber nicht nach Saarbrücken, wohin ich eigentlich wollte, fuhr, sondern nach Neunkirchen. Bei sich zu Hause angelangt, lud er mich sogar ein, falls ich keine andere Unterkunft hätte, bei ihnen zu übernachten. Bis dahin war das also ein besonders glücklich verlaufener Tag. Beim Abendbrot brachte aber der Rundfunk in den Abendnachrichten eine Meldung, die diesen Tag für mich zu einem der schwärzesten Trauertage machte: Erich Mühsam, hieß es da, habe sich im Konzentrationslager Oranienburg erhängt. Ich wusste: Das ist eine feige Lüge! Die Nazibestien haben ihn, den Juden, das verhasste Mitglied der ersten Münchener Räteregierung vom April 1919, den Anarcho-Kommunisten, der nicht müde wurde, die Bestialität der Nazifaschisten in der Öffentlichkeit anzuklagen und die Arbeiter zum gemeinsamen Abwehrkampf gegen sie aufzurufen, sie haben ihn ermordet!
In dieser Nacht ließen mich Wut und Trauer und die vielen Erinnerungen an Erich und seine Frau Zenzl (die in Bayern übliche Verkürzung des Namens Kreszentia) kaum schlafen.
Ich kannte beide, seitdem ich als Zehnjähriger 1928 mit meiner damals dreijährigen Schwester von unseren Eltern aus Stuttgart nach Berlin-Britz nachgeholt wurde. Meine Eltern, besonders aber meine Mutter, waren mit den Mühsams gut bekannt und befreundet, in erster Linie weil Mühsams Haus ein Anziehungspunkt für radikale Gegner der herrschenden bürgerlichen Ordnung der verschiedensten Richtungen war, – meine Eltern waren beide Mitglied der KPD -, und wohl auch wegen der Gemeinsamkeit der Herkunft aus den nichtpreußischen Landen südlich der Mainlinie. Wir wohnten zwar in verschiedenen Straßen, die Mühsams in der Dörchläuchtingstraße, wir in der Moses-Löwenthalstraße der berühmten Taut’schen Fritz-Reuter-Siedlung, aber deren Garten-Hinterfronten waren nur durch einen kleinen Gar-tenweg getrennt und von unserem zu ihrem Garten und Haus waren es nur wenige Schritte.
Natürlich erzählten mir meine Eltern, warum sie beide, den Erich, aber auch die Zenzl, so schätzten, und ich war sehr stolz darauf, dass meine Eltern mit einem solch großen Revolutionär befreundet waren. Sie gefielen mir beide gleich bei der ersten Begrüßung, obwohl ihr beider Aussehen ungewöhnlich war: er mit vollem Haupthaar und einem von Ohr zu Ohr reichenden Bart, einem Zwicker mit scharfen Gläsern, hinter denen er mich aber mit sofort Vertrauen einflößenden Augen anschaute. Und Zenzl, die mich freundlich begrüßte, aber mit ihren links und rechts über den Ohren zu einer Schnecke gerollten Haaren ganz und gar nicht nach einer “ Anarchistenfrau” aussah. Und was sie mir beide zusätzlich gleich besonders sympathisch machte, war, dass sie – wie auch meine Mutter – tierlieb waren und sich eine Katze und sogar auch einen Hund hielten.
Eines Tages hatten beide in ihrem Garten besonders viele Gäste, und vor denen sollte ich die Internationale singen, aber nicht mit dem bekannten, sondern mit einem von Erich Mühsam übersetzten Text. Den musste ich dazu erst lernen. Ich wurde zu meinem Gesangsvortrag auf den runden Gartentisch gestellt und gab mir große Mühe, und bei den ersten beiden Strophen ging auch alles gut, bei der dritten Strophe blieb ich aber stecken und konnte sie nur durch Souffleur-Hilfe zu Ende bringen. Mir wird auch heute noch heiß, wenn ich mich an dieses “Versagen” erinnere.
Ein oder zwei Jahre später – ich hatte gerade angefangen, mit einem Schulkameraden Schach zu spielen und glaubte, schon recht gut spielen zu können, – bot mir Erich an, ein wenig Unterricht im Schachspiel von ihm zu bekommen. Natürlich nahm ich das freudig an, wusste ich doch, dass ich wirklich erst die allerunterste Stufe des Schachspiels betreten hatte. Aber als Erich mich, nachdem wir die Steine aufgestellt hatten, fragte, auf welchem Feld ich “Matt” sein wolle, antwortete ich ihm natürlich: Auf keinem! Das gefiel ihm zwar, aber er blieb doch dabei, ich solle mir ein Feld aussuchen, und ich zeigte dann auf irgendeines, und natürlich wurde mein König auf diesem Feld mattgesetzt. Aber bei weiteren Spielen mit ihm lernte ich dann doch so viel, dass ich zumindest für andere ein einigermaßen ebenbürtiger Partner wurde.
Eine ganz unerwartete Begegnung mit Erich Mühsam hatte ich am Sonntag des 22. Januar 1933. An diesem Tage unternahmen die Nazis unter einem bisher nicht gekannten massiven Polizeischutz mit Einsatz von Panzerwagen einen provokatorischen Aufmarsch durch den rötesten Teil Berlins zum Bülowplatz, dem Standort des Karl-Liebknecht-Hauses, dem Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands. Das proletarische Berlin bildete links und rechts vom Zug der braunen Banditen ein Spalier, – ich mittendrin -, dessen nicht endendes Pfeifkonzert und wütende Flüche und Verwünschungen das Gröhlen ihrer Nazilieder übertönte. Und plötzlich , als gerade ein Panzerwagen der Polizei vorbeirollte, hörte ich neben mir einen Mann voller Zorn rufen: “Schmeißt denn keiner eine Handgranate!” Ich schaute mich um – es war Erich Mühsam. Ihn litt es nicht zu Hause, wenn es galt, gegen die Faschisten auf die Straße zu gehen. Aber er litt darunter, – wie wir alle-, dass wir ihnen nichts anderes entge-genstellen konnten, als unsere Wut und Verachtung. Beworfen wurden die Braunen aber doch – zwar nicht mit Handgranaten, aber aus den Fenstern der Häuser mit Blumen, an denen noch die Töpfe dran waren.
Wenige Tage später, am 25. Januar, – antwortete das proletarische rote Berlin auf die Nazi-provokation mit einer Demonstration, wie sie Berlin und ganz Deutschland noch nicht gesehen hatte. Bei bitterster Rekordkälte kamen aus allen Stadtteilen in langen Zügen die vielfach ganz unzureichend gegen den Frost geschützten Frauen, Männer und Jugendlichen und vereinten sich in der Mitte der Stadt zu einem endlosen Zug, der viele Stunden lang am Karl-Liebknechthaus an Ernst Thälmann und den anderen führenden Genossen der KPD vorbeizog. Diese Demonstration war so gewaltig, dass am nächsten Tage sogar in bürgerlichen Zeitungen daran gezweifelt wurde, ob es möglich sei, gegen diese entschlossenen Massen Hitler an die Macht zu bringen.
Nur fünf Tage danach ernannte Hindenburg Hitler zum Reichskanzler – und unter den ersten, die die Faschisten in ihre Konzentrationslager sperrten, war Erich Mühsam.
Wenige Tage nach seiner Verhaftung kam Zenzl zu uns und fragte meine Mutter, ob sie bereit wäre, Notizbücher von Erich bei uns sicher aufzubewahren. Natürlich war meine Mutter bereit dazu. Einen Teil der Hefte versteckten wir unter dem Kleiderschrank im Schlafzimmer der Eltern, einige andere im Schlafzimmerofen, der nicht geheizt wurde.
Eines Tages klingelte es bei uns – meine Mutter lag krank im Bett – und ein Polizist mit einem SA-Mann als Hilfspolizist kamen und führten eine Haussuchung durch. Als sie an die Schlaf-zimmertür kamen, sagte ich, dass meine Mutter krank im Bett liege, woraufhin der Polizist den SA-Mann anwies, draußen im Flur zu bleiben. Er selbst sah sich im Zimmer um, öffnete die Schranktür, ging dann auf den Ofen zu, öffnete ihn und leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. Ich dachte, jetzt ist alles verloren, und meiner Mutter ging es genau so. Aber der Polizist – der mit Sicherheit gesehen hatte, dass da etwas verborgen worden war, – knipste seine Ta-schenlampe aus und sagte nur: “Auch nichts”, und damit war die Haussuchung beendet. Wir hatten Glück gehabt, der Polizist war wohl noch einer aus der sozialdemokratischen Preu-ßen-Ära und kein Freund der Nazis.
Aber ob es bei einer neuerlichen Haussuchung, mit der wir rechnen mussten (und die natürlich auch nicht ausblieb), noch einmal so glimpflich abgehen würde, darauf zu hoffen war zu riskant. Meine Mutter erzählte Zenzl den Vorfall, und Zenzl war das Ganze jetzt auch bei uns zu unsicher. Sie holte Erichs Notizhefte wieder ab.
Vor einiger Zeit erfuhr ich, dass Zenzl den Nachlass Erichs bei einem guten Freund in Berlin, Ernst Simmerling, hatte unterbringen und von dort durch den tschechoslowakischen Presseat-taché in Berlin, Kamil Hoffmann, in zwei großen Kisten, als Diplomatengepäck getarnt, nach Prag in Sicherheit hatte bringen lassen können. Dabei dürften auch die Hefte gewesen sein, die zeitweilig in der Obhut meiner Mutter waren.
Zenzl selber hatte einen Verwandten, “Lucki” (Ludwig), der in die Sowjetunion emigriert war. Wir wussten, dass Zenzl nach Erichs Tod nach Prag und von dort aus in die Sowjetunion gereist war.
Dieses Wissen hat mir 1943, nach meinem Übertritt in sowjetische Gefangenschaft, sehr ge-holfen, die Lügen des – wie sich nach 1945 herausstellte – österreichischen Heim-wehr-Faschisten Auracher, der sich in das Vertrauen des NKWD im Kriegsgefangenenlager als eifriger Leiter des Antifa-Aktivs eingeschlichen hatte, zu widerlegen; er hatte beim NKWD und im Lager verbreitet, ich sei ein Hitlerjugend-Führer und Offizier der Wehrmacht gewesen. Ich konnte dagegen meine Angaben mit für die sowjetischen Organe nachprüfbaren Fakten un-termauern: erstens damit, dass meine Eltern 1931, als der KPD-Reichstagsabgeordnete Walter Stöcker in die Sowjetunion gereist war, er seine beiden Kinder bei uns “in Pension” gegeben hatte. Und zweitens eben, dass wir mit Erich und Zenzl Mühsam bekannt waren, und dass ich weiß, dass sie von Prag aus in die Sowjetunion gereist ist.
In der DDR wurde das Andenken an Erich Mühsam in vielen Büchern lebendig gehalten, und auch in der Sowjetunion wurde er als revolutionärer Schriftsteller geschätzt. Ich führe im fol-genden die Bücher auf, die in meinem Regal stehen:
Erich Mühsam, Unpolitische Erinnerungen, Volk und Welt-Verlag, Berlin, 1958
Erich Mühsam, Gedichte. Eine Auswahl, Volk und Welt Verlag, Berlin, 1958
Erich Mühsam, Bilder und Verse für Zenzl, Edition Leipzig, 1975
Erich Mühsam, Färbt ein weißes Blütenblatt sich rot. Zeugnisse und Selbstzeugnisse, Buchverlag Der Morgen, 1978
Erich Mühsam, Der Bürgergarten. Zeitgedichte, Aufbau-Verlag, Reihe bb 1982
Erich Mühsam, Zur Psychologie der Erbtante. Satirisches Lesebuch 1900-1933, Eu-lenspiegel Verlag Berlin 1984
Chris Hirte, Erich Mühsam “Ihr seht mich nicht feige”. Biografie. Verlag Neues Leben, Berlin 1985
Erich Mühsam, Eine Auswahl aus seinen Werken. Verlag f. fremdsprachliche Literatur, Moskau 1960
Geschrieben Frühjahr 2003
Veröffentlicht in “Rote Kalenderblätter” der DKP Brandenburg, April 2003, S. 9-11