Kurt Gossweiler
ANMERKUNGEN ZUM DEUTSCH-SOWJETISCHEN
NICHTANGRIFFSVERTRAG UND ZUR ROLLE STALINS
IM ZWEITEN WELTKRIEG (1)
Dieser unserer 6. Geschichtskonferenz kommt, meine ich, eine besonders große Bedeutung zu für die geistige Auseinandersetzung mit dem Geschichtsrevisionismus verschiedenster Couleur.
In unserem zu Ende gehenden Jahrhundert gab es zwei Ereignisse, die der Emanzipationsbewegung der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und Völker die gewaltigsten Schübe vermittelten und sie besonders weit voranbrachten: Die Oktoberrevolution von 1917 und der Sieg über den Faschismus 1945. Um wie vieles näher wäre die Menschheit wohl schon dem Abgrund der drohenden Endzeitkatastrophe, der sie vom nunmehr den Erdball fast wieder uneingeschränkt beherrschenden Imperialismus mit beschleunigtem Tempo entgegen getrieben wird, hätte es diese beiden bedeutendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts nicht gegeben!
Die drei Referate und die bisherige Diskussion geben Grund zu der Annahme, der Protokollband dieser Konferenz werde Zeugnis davon ablegen, dass auf ihr dem Geschichtsrevisionismus – vom äußersten rechten bis zum vorgeblich linken Spektrum – entschieden und mit treffsicheren Ar-gumenten entgegengewirkt wurde, weshalb er verdient, nicht das übliche Schicksal von Proto-kollbänden zu erleiden – nämlich ungelesen im Regal abgestellt zu werden, sondern von Hand zu Hand zu gehen und als Quellen- und Arbeitsmaterial gebraucht zu werden (was im übrigen natürlich für viele Protokollbände unserer Konferenzen zu wünschen ist).
In meinem Diskussionsbeitrag möchte ich nur einige Anmerkungen zum Referat des Genossen Stefan Doernberg loswerden.
Zuvor jedoch ein paar Worte zu den gerade gehörten Ausführungen von Wolfgang Harich. Als Historiker stimme ich ihm zu, wenn er dafür plädiert, es müsse als legitim anerkannt werden, die Frage: “Was wäre wenn …” zu stellen. Ich halte zum Beispiel die Frage, “Was wäre aus Deutschland, Europa und der Welt geworden, wenn die deutschen Arbeiter in ihrer Mehrheit 1918 nicht Ebert und Scheidemann, sondern Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gefolgt wären?” für eine Frage, die gerade deutschen Sozialisten und gerade jetzt gestellt werden muss, da wir wieder einmal die Frage zu beantworten haben: “Wie konnte es geschehen?” Dagegen scheint mir die von Wolfgang Harich gestellte Frage, was wohl wäre, wenn Lenin so alt geworden wäre wie Adenauer, oder wenn er 1942 aus seinem gläsernen Sarg auferstanden wäre, ob er dann nicht, statt die Sow-jetunion in den Krieg gegen Japan zu führen, die Rote Armee dafür eingesetzt hätte, dem spani-schen Faschismus den Garaus zu machen, gar zu spekulativ und von den objektiven Gegebenheiten entfernt, als dass sie fruchtbar und hilfreich sein könnte.
Im übrigen aber halte ich angesichts der vielfach verfälschten Darstellung der Geschichte, insbe-sondere der der Sowjetunion, für die wichtigste Frage an die Geschichte nicht: “Was wäre, wenn …”, sondern die Frage: “Wie war es denn in Wirklichkeit?”
Und damit komme ich zu dem, worüber ich eigentlich sprechen wollte.
Ich bin mit der großen Linie des Referates von Stefan Doernberg, mit seiner Hauptstoßrichtung gegen den Geschichtsrevisionismus, voll einverstanden. In einigen Fragen jedoch teile ich seine Ansicht nicht oder halte sie für ergänzungsbedürftig. Das betrifft vor allem die Einschätzung des Nichtangriffsvertrages und die Rolle Stalins.
1. Einige Bemerkungen zum Nichtangriffsvertrag
In meinen Ausführungen gehe ich nur auf jene Punkte ein, die Genosse Doernberg berührt hat.
In seinem Referat hat sich Stefan Doernberg positiv dazu geäußert, dass durch den Nichtang-riffsvertrag dem faschistischen Deutschland verwehrt wurde, ganz Polen bis an die sowjetische Grenze und das Baltikum zu besetzen. Er hat dagegen das gleichzeitig mit dem Nichtangriffsver-trag, also auch am 23. 8. 1939, unterzeichnete Geheimabkommen über die Demarkationslinie und das am 28. September 1939 abgeschlossene so genannte “Freundschafts- und Grenzabkommen” scharf verurteilt.
Genosse Doernberg glaubt also offensichtlich, man hätte das, was er begrüßt – nämlich den Stop der deutschen Wehrmacht, ohne das andere, das er verurteilt, das geheime Abkommen über die Demarkationslinie – haben können. Das erinnert mich doch stark an den christlichen Glauben an das Wunder der “Unbefleckten Empfängnis”; in beiden Fällen wird ein Ergebnis ohne dessen Voraussetzungen für möglich gehalten.
Aber im Nichtangriffsvertrag ist kein Wort der Verpflichtung für die Wehrmacht enthalten, nicht das ganze Polen als ihr “Interessengebiet” zu betrachten und gegebenenfalls zu besetzen, also bis an die sowjetische Grenze vorzudringen. Der Riegel, der dem vorgeschoben wurde, war eben das so hart verurteilte “Geheimabkommen”. In meinen Augen wäre es ein Verbrechen und ein Verrat gewesen, hätte die Sowjetführung sich mit dem Abschluss des Nichtangriffsvertrages begnügt und nicht in einem weiteren Abkommen zu erreichen versucht, die faschistische Wehrmacht so weit wie irgend möglich von der eigenen Grenze fernzuhalten. Das aber war anders als durch einen schriftlichen Vertrag nicht zu erreichen. Wer also den Nichtangriffsvertrag billigt, das Geheim-abkommen aber verurteilt, verurteilt in Wahrheit, dass die Sowjetregierung nicht ganz Polen samt seinen weißrussischen und westukrainischen Bestandteilen und das Baltikum Hitlerdeutschland als Aufmarschbasis für den späteren Überfall auf die Sowjetunion überließ.
“Aber ein sozialistisches Land darf doch keinen Vertrag über die Abgrenzung von Interessens-phären mit einem imperialistischen oder gar faschistischen Staat schließen” – so auch von Kom-munisten zu hören, seitdem durch Gorbatschow das Denken in den Kategorien des Klassenkampfes durch heuchlerisches Moralisieren verdrängt wurde.
Aber wieso darf es das eigentlich nicht? Gibt es denn einen friedlicheren Weg, um Völker und Staaten aus dem Macht- und Einflussbereich des Imperialismus herauszulösen? Was ist daran denn prinzipiell unzulässig? Muss sich nicht vielmehr jeder Kommunist und jeder Antiimperialist darüber freuen, wenn ein sozialistischer Staat eine derartige Stärke erreicht hat, dass er imstande ist, auf eine solche Weise den Imperialismus zurückzudrängen und seinen Machtbereich einzuengen? Wie froh müssten wir sein, wenn es einen solch starken sozialistischen Staat heute noch gäbe!
Ich stelle mir vor, was Lenin – um einmal Wolfgang Harichs Was-wäre-wenn-Frage aufzugreifen – jenen Kommunisten antworten würde, die die Haltung der Sowjetregierung im August/September 1939 so harsch verurteilen, Lenin, der – als hätte er die damalige Situation vorausgesehen – am 26. November 1920 vor Moskauer Parteifunktionären ausführte:
“Vorläufig sitzen die Imperialisten da und warten auf einen günstigen Augenblick, um die Bol-schewiki zu vernichten. Wir aber schieben diesen Augenblick hinaus. … Noch mehr würde uns der Umstand retten, wenn die imperialistischen Mächte sich in einen Krieg verwickelten. Wenn wir gezwungen sind, solche Lumpen wie die kapitalistischen Diebe zu dulden, von denen jeder das Messer gegen uns wetzt, so ist es unsere direkte Pflicht, diese Messer gegeneinander zu richten. Wenn zwei Diebe streiten, so gewinnen dabei die ehrlichen Leute.” (2)
Für den Schweizer antikommunistischen Historiker Walter Hofer waren diese Ausführungen Le-nins der Beweis dafür, dass sich die Sowjetunion beim Abschluss des Nichtangriffsvertrages und seiner Folgeabkommen strikt an die Leninschen Weisungen gehalten hat. (3) Ist es eigentlich nicht traurig, dass ein bürgerlicher Historiker wie Hofer mehr Verständnis für den Klasseninhalt der damaligen sowjetischen Politik an den Tag legt, als so mancher von Gorbatschows “Neuem Denken” verwirrte Kommunist?
Von Winston Churchill wissen wir, dass er sehr wohl verstanden und sogar gebilligt hat, dass die Sowjetunion mit dem Nichtangriffsvertragssystem dem Vorrücken Hitlers Barrieren in den Weg gelegt hat. In einer Rundfunkansprache am 1. Oktober 1939 führte er immerhin aus: “Dass die russischen Armeen auf dieser Linie stehen, ist für die Sicherheit Russlands gegen die deutsche Gefahr absolut notwendig. Jedenfalls sind die Stellungen bezogen, und die Ostfront ist geschaffen, die anzugreifen das nazistische Deutschland nicht wagt. Als Herr von Ribbentrop in der vorigen Woche nach Moskau gerufen wurde, da geschah das, damit er von der Tatsache erfahre und Notiz nehme, dass den Absichten der Nazis auf die baltischen Staaten und die Ukraine ein Ende gesetzt werden muss.” (4)
Wieso wollen das deutsche Kommunisten nicht verstehen, sogar jene, die es schon einmal ver-standen hatten? Haben doch alle, die 1945 schon aktiv im politischen Leben standen, die 1948 erschienene Broschüre des Sowjetischen Informationsbüros mit dem Titel: “Geschichtsfälscher. Aus Geheimdokumenten über die Vorgeschichte des 2. Weltkrieges” gelesen und sich damals von der Richtigkeit des Vorgehens der Sowjetregierung überzeugt! Warum halten sie heute für falsch, was ihnen damals so sehr eingeleuchtet hat? Nur weil Herr Gorbatschow – der Duz-Freund Helmut Kohls, der Befürworter der UNO-Tarnung des USA-Krieges im Nahen Osten – die sowjetische Politik von 1939 für völkerrechtswidrig erklärt hat?
Noch ein Wort zum “Geheimabkommen”. Dass die Sowjetregierung mit der Regierung Deutsch-lands ein Abkommen über eine Demarkationslinie getroffen hat, an der die Wehrmacht Halt ma-chen musste, wurde durch die sowjetische Presse veröffentlicht. In der Iswestija vom 23. Sep-tember 1939 ist eine Karte Polens abgebildet, mit der – wie es in der Erläuterung heißt – “durch die Regierung Deutschlands und der UdSSR festgelegten Demarkationslinie”. Also sowohl die Tat-sache eines Abkommens als auch dessen Inhalt wurden der eigenen Bevölkerung und aller Welt mitgeteilt. Umso unverständlicher ist allerdings, dass die Sowjetregierung bis in die Gorbat-schow-Periode hinein hartnäckig bestritt, dass zum Nichtangriffsvertrag auch noch ein Geheim-abkommen abgeschlossen worden war, obwohl diese Tatsache bereits auf dem Nürnberger Prozess aktenkundig gemacht war.
Soviel zum “Geheimabkommen” vom 23. August 1939. Und was ist zum sogenannten “Freund-schafts- und Grenzabkommen” zu sagen?
Natürlich konnte und kann keinem Antifaschisten, erst recht keinem Kommunisten, die Bezeich-nung eines Abkommens zwischen dem faschistischen Deutschland und der Sowjetunion als “Freundschaftsabkommen” gefallen; sie muss vielmehr als Verletzung unantastbarer Grundsätze empfunden werden. Das war auch meine Empfindung damals, als ich die Nachricht über dieses Abkommen las. Zugleich aber war ich absolut sicher, dass von wirklicher Freundschaft von beiden Seiten her keine Rede sein konnte, dass es also für die Zustimmung der Sowjetunion zu einer solchen Bezeichnung besondere Gründe gegeben haben muss. Denn der Inhalt – die Festlegung der endgültigen Demarkationslinie, die den Übergang auch Litauens und damit des ganzen Baltikums aus der “Interessensphäre” Hitlerdeutschlands in die der Sowjetunion bedeutete, war ja in Wahrheit ein eindeutiges Zeugnis des Misstrauens der Sowjetführung gegenüber Hitlerdeutschland.
Daher vermutete ich, ja, ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht die Sowjetunion, sondern Na-zideutschland war, auf dessen Drängen die Bezeichnung des Abkommens als “Freundschaftsab-kommen” zurückging. Meine Freude und Genugtuung war groß, als ich später beim Studium des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher diese meine Vermutung bestätigt fand.
Auf Verlangen des Verteidigers des Nazi-Außenministers Ribbentrop, Seidl, wurde dort nämlich eine Aufzeichnung des Leiters der Rechtsabteilung des deutschen Außenministeriums, Gaus, über die Verhandlungen zum Nichtangriffsvertrag in Moskau verlesen. Darin findet sich auch folgende aufschlussreiche Passage:
“Herr v. Ribbentrop hatte persönlich in die Präambel des von mir angefertigten Vertragsentwurfs eine ziemlich weitgehende Wendung, betreffend freundschaftlicher Gestaltung der deutsch-russischen Beziehungen eingefügt, die Herr Stalin mit dem Bemerken beanstandete, dass die Sowjetregierung, nachdem sie sechs Jahre lang von der nationalsozialistischen Regierung mit ‚Kübeln von Jauche‘ überschüttet worden sei, nicht plötzlich mit deutsch-russischen Freund-schaftsversicherungen an die Öffentlichkeit treten könne. Der betreffende Passus wurde daraufhin gestrichen bzw. geändert.” (5)
Wenn die Sowjetregierung vier Wochen später doch zustimmte, von “Freundschaft” zwischen beiden Staaten zu reden, dann verdeutlicht das nach meinem Dafürhalten vor allem eins: dass in der gegebenen Situation nicht nur die Sowjetunion einen Preis für ihre Nichtangriffshaltung verlangen konnte, sondern Hitlerdeutschland seinerseits auch einen Preis für seine Zustimmung zu den sowjetischen Forderungen hinsichtlich der Demarkationslinie. Ob die sowjetischen Zugeständnisse zu weit gingen – darüber wird man noch lange streiten können; aber absolut unerträglich und unzulässig ist für mich eine Kritik an der damaligen sowjetischen Politik seitens derjenigen, die aktiv dazu beigetragen haben, dass es heute keine Sowjetunion und keine sozialistischen Ver-bündeten der Sowjetunion mehr gibt, und die sich dessen auch noch rühmen.
Eine kurze Bemerkung noch zu der Feststellung Stefan Doernbergs, die Antihitlerkoalition sei “das natürliche Ergebnis” der damaligen Gegebenheiten und Erfordernisse gewesen.
War das wirklich so? Wäre nicht ein viel “natürlicheres” Ergebnis eine Antisowjetkoalition der imperialistischen Staaten gewesen, wie sie in den Interventionskriegen der frühen zwanziger Jahre schon bestanden hatte und sich im Münchner Abkommen von 1938 schon wieder in Umrissen abzeichnete?
War es denn nicht so, dass es größter Anstrengungen der Sowjetregierung und der Fähigkeit be-durfte, entsprechend den Leninschen Weisungen die imperialistischen Gegensätze maximal aus-zunutzen, um das Zustandekommen einer imperialistischen Einheitsfront gegen die Sowjetunion zu verhindern? Nein, die Antihitlerkoalition war keineswegs ein selbstverständliches, “natürliches” Ergebnis von Umständen, sondern das Ergebnis einer klugen leninistischen Politik, deren Kernstück der Nichtangriffsvertrag war. Ohne Abschluss des Nichtangriffsvertrages – keine An-tihitlerkoalition! Nur der Nichtangriffsvertrag vereitelte das imperialistische Ränkespiel, Hitler-deutschland und die Sowjetunion in einen gegenseitigen Vernichtungskrieg zu treiben, selbst aber abwartend beiseite stehen zu können, indem er die Westmächte zwang, als erste den Kampf gegen das faschistische Deutschland aufzunehmen.
2. Einige Bemerkungen zur Stalin-Frage
Dies ist keine Konferenz zu dieser in letzter Zeit verstärkt diskutierten Frage, und ich hätte dazu nicht gesprochen, hätte nicht das Referat von Stefan Doernberg dazu Anlass gegeben. Genosse Doernberg führte nämlich aus, der Sozialismus habe seine Überlegenheit im Zweiten Weltkrieg “trotz der Stalinschen Deformationen” bewiesen. Das erinnert mich stark an die seit dem 20. Par-teitag, verstärkt seit den Gorbatschowschen “Enthüllungskampagnen”, im Schwange befindliche, aller Logik baren Argumentation, die bedenkenlos zwei sich gegenseitig ausschließende Be-hauptungen über Stalins Rolle miteinander koppelt, nämlich die eine, nach der Stalin ein all-mächtiger, unumschränkter, keinerlei Widerspruch duldender Diktator gewesen sei, mit der an-deren, alle Erfolge, die zu Lebzeiten Stalins durch die Partei und den Sowjetstaat errungen wurden, seien trotz und gegen Stalin errungen worden. Die Frage muss erlaubt sein, ob der Sozialismus seine Überlegenheit im Zweiten Weltkrieg so überzeugend hätte unter Beweis stellen können, ohne die erfolgreiche Durchführung der Fünfjahrpläne, ohne die Industrialisierung und ohne die Kol-lektivierung, die ja wohl nicht trotz und gegen Stalin beschlossen und verwirklicht wurden.
Doernbergs Formulierung legt die Schlussfolgerung nahe, dass ohne Stalin der Sozialismus seine Überlegenheit noch viel überzeugender bewiesen hätte. Nun, seit 1953 existierte der Sozialismus ohne Stalin. Und? Hält man sich an die Fakten, dann muss man – ob einem das gefällt oder missfällt – nüchtern feststellen: in den fast 40 Jahren nach Stalin unter der Führerschaft seiner scharfen Kritiker von Chruschtschow bis Gorbatschow, ging diese 1945 so eindeutig bewiesene Überle-genheit Jahr für Jahr mehr verloren.
Von manchen wird das damit erklärt, dass Stalins Nachfolger zwar die Stalinschen Deformationen beim Namen nannten, aber die “stalinistischen Strukturen” beibehalten hätten.
Es ist an der Zeit, sich mit dieser “Struktur-Theorie” gründlich zu beschäftigen, aber an dieser Stelle möchte ich nur soviel sagen: Der Strukturalismus ist eine alte, bürgerliche Theorie; sie behauptet, im Wechselverhältnis von Form und Inhalt sei die Form das bestimmende Element. Dementsprechend soll auch der Inhalt einer Politik von den Strukturen, innerhalb deren sie sich bewegt, bestimmt sein. Das ist das Gegenteil eines marxistischen Herangehens. Für Marxisten ist der Inhalt einer Politik, ihr Klasseninhalt, das wesensbestimmende, letztlich auch über die Strukturformen entscheidende Element. Dies allerdings nicht in mechanischer Abhängigkeit: die Erfahrung lehrt, dass bestimmte Strukturen, einmal hervorgebracht, ganz unterschiedlichen, ja sogar gegensätzlichen Inhalten Spielraum lassen. Deshalb ist das Entscheidende für eine marxistische Analyse die Bestimmung des Klasseninhalts einer Politik. Eine solche Analyse der Politik der Nachfolger Stalins ist – zumindest von den deutschen Kommunisten, die aus der SED oder der DKP kommen – noch nicht einmal im Ansatz in Angriff genommen.
Ganz zum Schluss will ich an einem Beispiel meine volle Übereinstimmung mit Stefan Doernberg belegen: ich stimme nachdrücklich seiner Feststellung zu, dass Werner Maser, Verfasser zahlreicher Bücher über Hitler und die NSDAP, “einer der schlimmsten Geschichtsfälscher” ist. Es muss hier aber ergänzt werden, dass dies absolut keine neue Erkenntnis ist. Wie könnte es anders sein bei einem Mann, der, wie der “Spiegel” am 2. Mai 1973 zu berichten wusste, schon dem “Reichsführer SS” Heinrich Himmler im September 1944 als der “künftige Führerbiograph und Historiker des Nationalsozialismus” vorgestellt wurde und – wie seine späteren Hervorbringungen ausweisen – auch nach der Höllenfahrt Hitlers und Himmlers mit größtem Eifer bemüht war, dieser Bestimmung gerecht zu werden, was ihm schon vor vielen Jahren von DDR-Historikern bestätigt wurde. (6)
Umso mehr muss die Wendehälsigkeit eines der Verlage der DDR – wenn ich mich nicht sehr irre, sogar des Dietz-Verlages – Erstaunen hervorrufen, der sehr schnell nach der Katastrophe von 1989 seine Anpassungsfähigkeit dadurch bewies, dass er dieses Masers braunschillernde Hitlerbiographie auf den Markt warf. Leider ist dies nicht das einzige Beispiel für die Verbreitung von Ge-schichtsrevisionismus durch Verlage, von denen man eigentlich das Gegenteil erwarten sollte.
Bemerkungen zum Referat Stefan Doernberg auf der 6. Konferenz des Marxistischen Arbeitskreises zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (“50. Jahrestag der Befreiung. Wider den Geschichtsrevisionismus”) Texterfassung nach Kurt Gossweiler, Wider den Revisionismus, München (Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung) 1997, S. 219-227.
Anmerkungen:
(1) Diese Bemerkungen zum Referat Stefan Doernbergs auf der 6. Konferenz des Marxistischen Arbeitskreises zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sind enthalten im Protokollband dieser Konferenz, dem Band 25 der Schriftenreihe der Marx-Engels-Stiftung mit dem Titel “50. Jahrestag der Befreiung. Wider den Geschichtsrevisionismus”, Bonn 1996, S. 103-109.
(2) W. I. Lenin, Sämtliche Werke, Bd. XXV, Wien-Berlin, 1930, S. 633 f.
(3) Walter Hofer, Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Eine Studie über die internationalen Beziehungen im Sommer 1939. Mit Dokumenten. Frankfurt am Main und Hamburg 1967, S. 87 f., 103 f.
(4) Geschichtsfälscher. Aus Geheimdokumenten über die Vorgeschichte des 2. Weltkrieges, Berlin 1955, S. 51.
(5) Internationaler Gerichtshof Nürnberg. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem IMG, Nürnberg, 14. XI. 1945 – 1. X. 1946, Bd. X, S. 353 f.
(6) Manfred Weißbecker, Entteufelung der braunen Barbarei, Berlin 1975, S. 15, 69 f. – Kurt Gossweiler, Kapital, Reichswehr und NSDAP 1919-1924, Berlin 1982, S. 25-28.