Stellungnahme zum Entwurf des Buches von Sahra Wagenknecht (August 1994)

Kurt Gossweiler

STELLUNGNAHME ZUM ENTWURF DES BUCHES (1)
VON SAHRA WAGENKNECHT

Berlin, 4. 8. 1994

Liebe Sahra,

endlich habe ich mich soweit freigeschwommen, dass ich mich an diesem Wochenende mit der Niederschrift meiner Gedanken zu Deiner Ausarbeitung beschäftigen kann, damit Du sie noch irgendwie verwenden kannst.

In einer Hinsicht sind meine Erwartungen voll erfüllt worden: Was Du zu diesem wichtigen Thema sagst, und wie Du es sagst, liest man gerne, auch wenn man mit Manchem, sogar Vielem nicht einverstanden ist. Dazu nachher.

Zuerst aber: der Teil über die Neue Ostpolitik Bonns ist erstens so wichtig und zweitens so aus-gereift, dass man ihn möglichst schnell veröffentlichen sollte.

Von den anderen Abschnitten des Teils II kann das – meiner Meinung nach – noch nicht gesagt werden. Ich sehe drei Hauptmängel:

1. Die Ausarbeitung beruht auf einer zu schwachen Materialbasis; 2. Der Aufbau verhindert eine Darstellung der Entwicklung, die der Wirklichkeit der Systemauseinandersetzung entspricht; 3. Die Darstellung ist zu wenig von der Untersuchung dessen, was wirklich vorging, dafür umso mehr von einem vorgefassten Erklärungs- Schema geleitet.

Zu 1., der ungenügenden Materialbasis

Die Hauptgrundlage Deiner Darstellung ist ein rundes Dutzend von Büchern imperialistischer Strategen von Kennan bis Brzezinski, die zumeist erst in den 60er Jahren und später geschrieben wurden. Du gibst zwar einen hervorragenden Überblick und eine Vorstellung und Analyse der in den einzelnen Büchern vorgelegten strategischen Konzepte, wie sie in dieser Qualität meines Wissens noch nicht vorliegen; aber meines Erachtens reicht das nicht aus, um “Die strategischen Konzepte des Imperialismus” gegen den Sozialismus zu erfassen und treffend zu beschreiben. Dies umso weniger, als die wirklich entscheidende Zeit von 1945 bis 1955 kaum Berücksichtigung findet. (Ich komme darauf zurück.) Zu einer eigenständigen Analyse imperialistischer Strategie-bildung genügt nicht die Untersuchung der “Sekundärliteratur” (denn das sind die von Dir unter-suchten Werke der Kennan, Kennedy, Brzezinski usw.), sondern es muss die jeweils aktuelle Reaktion der maßgeblichen imperialistischen Schaltzentralen auf Aktionen bzw. Reaktionen der Gegenseite untersucht werden. (Das wäre die “Primärliteratur”; wollte man noch tiefer schürfen, müsste man natürlich in die Archive gehen, aber das ist nicht nötig für unsere Zwecke. Aber un-umgänglich ist das Studium der führenden Organe der “Selbstverständigung” der imperialistischen Eliten.) Wenn man das aus irgendwelchen Gründen nicht kann, dann muss man in seinen Schlussfolgerungen und in seiner Thesenbildung äußerst vorsichtig sein, weil man ja sein Urteil auf der Grundlage bereits subjektiv gefilterter Ereignisauswahl und -deutung bilden muss. (Wie sehr das eigene Urteil von dem Deiner Autoren geprägt werden kann, scheint mir besonders deutlich bei Deiner Schilderung und Würdigung des Konzepts von de Gaulle, das – so scheint es mir jedenfalls – sich sehr stark an Brzezinski anlehnt.)

Zu 2.

Du hast Dich dafür entschieden, in einem Teil II einen Längsschnitt der imperialistischen Kon-zeptionen zu geben, in einem Teil III dann Dich mit der “antikapitalistischen Strategie im ersten Sozialismus”, genauer, mit deren Niedergang, zu beschäftigen. Da dieser Teil fehlt, tritt der Mangel dieses Aufbaus umso stärker in Erscheinung, nämlich die undialektische Trennung zweier Seiten, deren Bewegung nur als Wechselwirkung verständlich wird.

Der Leser des Teil II – den Abschnitt über Bonn jetzt weggelassen – erhält ein Bild, das ihm un-lösbare Rätsel aufgibt: er erfährt, dass der Imperialismus hervorragende strategische Denker hat – (was natürlich ganz nützlich zu erfahren und zu wissen ist); dass jedoch auf der anderen Seite nichts Gleichwertiges zu finden ist, da der Imperialismus den Sozialismus als bloßes Objekt seiner strategischen Planungen behandeln kann, ohne befürchten zu müssen, dass von der anderen Seite eine wirkungsvolle Gegenstrategie entwickelt werden würde. Eine ernsthafte Gefahr für die eigene Strategie geht, wenn überhaupt, dann von der eigenen innerimperialistischen Seite aus.

Die sozialistische Seite dagegen ist so unbegreiflich dumm, dass sie nicht einmal die in den von Dir besprochenen Büchern offen dargelegten Konzepte zur Zerstörung des Sozialismus zu erkennen vermag. Und das, obwohl das zum großen Teil noch die gleichen Leute sind, die durch die Schule der Parteitage der KPdSU gingen, auf denen zu Lenins und Stalins Zeiten Meisterstücke der Analysen und Entlarvung imperialistischer antisozialistischer Strategie und Taktik vorgeführt wurden.

Du schreibst auf S. 31: “Das Gelingen der indirekten Strategie setzte voraus, dass ihre Existenz im sozialistischen Lager nicht reflektiert wurde.” Wenn der Satz stimmt, dann muss man folgern: die Existenz der indirekten Strategie wurde im sozialistischen Lager nicht reflektiert, denn sie gelang!

Wie aber sollte all das, was Du an offener Zielsetzung der “indirekten Strategie” aus den ver-schiedenen Büchern zitierst, nicht “reflektiert” worden sein? Konnten die führenden Leute dort den Sinn von Worten weniger erkennen, als Du und ich? Oder kannten sie gar diese Bücher nicht?

Wenn ich Deinen von S. 31 zitierten Satz wörtlich nehme, dann muss ich diese Fragen mit “Ja” beantworten.

Nur: Dein Satz stimmt nicht. Natürlich wurde im sozialistischen Lager das Wesen der indirekten Strategie erkannt und “reflektiert”. Die Revisionismusdebatte in den sozialistischen Ländern und die Auseinandersetzung zwischen Chrustschow und der KP China gingen ja unter anderem auch darum.

Es muss also erklärt werden, warum – obwohl das Wesen der indirekten Strategie erkannt und “reflektiert” wurde – dennoch keine Gegenstrategie entwickelt wurde, sondern die Sowjetführung der imperialistischen Strategie direkt in die Hände arbeitete – z. B. durch die “Versöhnung” mit Tito, die “Entspannungspolitik”, den Bruch mit China.

So, wie Du ihn schilderst, ist kaum zu erkennen, dass der Imperialismus einen großen Kampf, gar einen erbitterten Klassenkampf, gegen den Sozialismus zu führen hatte, dessen Ausgang keines-wegs feststand, denn dieser Sozialismus erscheint ja seinem Gegner in keiner Weise ebenbürtig.

Und wenn Du versucht sein solltest, darauf zu antworten: das stimmt doch auch, dann wird umso dringender die Frage, die bei Dir halt nicht erklärt wird: wie konnte es dazu kommen, dass dieser Gegner Sowjetunion, dem der Imperialismus bis 1953 weder durch offene Konfrontation noch durch Versuche der Zersetzung von innen beikommen konnte, auf einmal nur noch eine Art Punching-Ball für den Imperialismus ist? Aber – es war ja keineswegs so. Jedoch die einseitige Schilderung der imperialistischen Konzeption als eine, die Schritt für Schritt ihrem Ziele näher kommt, ohne eigentlich kämpfen zu müssen – bekräftigt ungewollt das Bild, das die heute Herrschenden hervorrufen wollen: im Grunde war der Sozialismus nur eine versehentliche Fußnote der Geschichte, und die Korrektur musste zwangsläufig kommen. (Die wenigen Zitate von Kennedy über den Verlust der Initiative an die SU können diesen Grundeindruck nicht korrigieren.) Zu-sammenfassend: Ich meine, der jetzige Aufbau verhindert, die Dialektik der Systemauseinander-setzung in ihrer ganzen Härte und Bedrohlichkeit für den Imperialismus, seine Gefährdung durch die weltrevolutionäre Entwicklung, deren eine Hauptstütze die Sowjetunion trotz allem bis 1975 blieb, sichtbar zu machen.

Zu 3.

In Deiner Untersuchung fehlen zahlreiche historische Ereignisse, darunter gerade auch solche, die für die Herausbildung der imperialistischen Strategie-Konzepte von erstrangiger Bedeutung waren, und ohne deren Berücksichtigung eine Analyse der imperialistischen Strategie gewissermaßen in der Luft hängt.

Ich will nur Einiges aufzählen, worüber man sich anhand nicht späterer Bücher, sondern aus der Situation heraus geschriebener Einschätzung maßgeblicher Politiker, Journalisten, Experten aus dem imperialistischen Lager ein eigenes Bild verschaffen muss, um den Entwicklungsprozess imperialistischer Strategie nach dem 2. Weltkrieg analysieren zu können:

1. Dazu gehört unbedingt die Untersuchung des Verhältnisses der imperialistischen Mächte zu Tito und seiner Truppe während des Zweiten Weltkrieges.

Wenn ich z. B. in der britischen Zeitschrift “The Fortnightly” in der Nummer vom November 1944 in einem Artikel über “The Future of Yugoslavia” von einem C. F. Melville eine Voraussage wie die folgende lese, dann bin ich aufgrund des Eintreffens dieser Voraussage natürlich gezwungen, mir über die damaligen Beziehungen Titos zum britischen Imperialismus und zum Imperialismus überhaupt nicht nur Gedanken zu machen, sondern mir soviel Informationen wie möglich zu be-schaffen. Melville also sagt voraus:

“… The idea of a great Yugoslav-Bulgarian bloc, as a specifically Russian sphere of interest, with Greece alone remaining within the British sphere of interest, is one which is not likely to commend itself to the new leaders of Yugoslavia. Marshal Tito and his associates, and the new Yugoslavia they are creating, naturally have a deep sympathy with the new Russia. Relations between the two will inevitably be close and friendly. But the sturdy feeling of independence which is in every Yugoslav is not likely to permit the country to become a mere satellite of Russia. That is far more likely to be the case with Bulgaria than with Yugoslavia. The new leaders of Yugoslavia want to pursue a policy based upon collaboration both with Russia and with Britain …” (S. 293)

Hier wird also bereits 1944 festgestellt, dass ein Tito-Jugoslawien anders als Bulgarien (also die bulgarischen Kommunisten) eine Position der gleichen Nähe bzw. gleichen Distanz zur sozialis-tischen Sowjetunion wie zum britischen Imperialismus einnehmen wird, eine Position, die Tito im Klub der Nichtpaktgebundenen später direkt als ein “Verhältnis gleicher Distanz zu den beiden Blöcken” kennzeichnete, im Widerspruch zu Fidel Castros Feststellung, die Sowjetunion und die sozialistischen Länder seien die natürlichen Verbündeten der Nichtpaktgebundenen. Melvilles Berufung auf den “unbändigen Unabhängigkeitswillen jedes Jugoslawen” (was ist ein Jugoslawe?) im Unterschied zu den Bulgaren ist natürlich eine ablenkende Scheinerklärung (während der Balkankriege, als die Bulgaren das Türkenjoch abwarfen, wurde ihr unbändiger Unabhängig-keitswillen zur nationalen Spezifik erklärt). Worum es wirklich ging und aus dem ganzen Artikel auch deutlich wurde, war der Fakt, dass Tito bereits damals Sonderbeziehungen zu England ge-knüpft hatte. (Darüber kannst Du Näheres aus der seit der Chrustschow-Zeit auf dem Index ste-henden Literatur nachlesen: z. B. Dino G. Kjosseff, Tito ohne Maske, Berlin 1953; Renaud de Jouvenel, Tito, Marschall der Verräter, Berlin 1952) Hier liegen die Wurzeln für den späteren Konflikt, und nicht in “Stalinscher Willkür”. 1944 hat man uns an der Antifa-Schule in der Sow-jetunion Tito als den zuverlässigsten aller osteuropäischen Führer der kommunistischen Wider-standsbewegung hoch gelobt, und das blieb so bis 1947. Bei uns galt in der Partei damals Jugo-slawien als das Land der Volksdemokratien, das dem Übergang zum Sozialismus schon am nächsten gekommen sei. Die imperialistischen Top-Politiker wussten es besser.

2. Deshalb ist es auch so wichtig, ihre Reaktion auf die Kritik des Kominform an der KP Jugo-slawiens und den Bruch Titos mit dem Inform-Büro zu untersuchen.

3. Die Reaktion des Imperialismus auf den Sieg der chinesischen Revolution und seine Erwartung und Befürchtungen über das künftige Verhältnis SU – Volks-China.

4. Ganz besonders sorgfältig sind natürlich die Reaktionen auf den Führungswechsel in der Sow-jetunion nach Stalins Tod zu untersuchen, bis hin zu den Erwartungen hinsichtlich der einzelnen Personen der neuen Führung.

Mir fiel auf, dass Du gleich zu Beginn einen großen Sprung aus dem Jahr 1947 in das Jahr 1953 machst. Dabei entgeht Dir aber Wesentliches. Du zitierst ja selbst Brzezinskis Feststellung, eine der verhängnisvollsten Aktionen sei die Aussöhnung mit Tito gewesen. Das müsste doch Grund genug sein, sich mit Tito, seiner Partei und der Rolle seines Staates ganz besonders gründlich zu befassen. Diese Schlüsselfrage spielt aber bei Dir eine völlig untergeordnete Rolle, sehr zu Unrecht.

5. Ganz wichtig zu untersuchen wäre die imperialistische Reaktion auf die “Aussöhnung” mit Tito.

6. Die imperialistischen Reaktionen, Kommentare und Erwartungen hinsichtlich der weiteren Entwicklung nach dem 20. Parteitag. (Ich habe in meinen Artikeln mehrfach J. F. Dulles’ Vo-raussage von 1956 zitiert, dass die Anti-Stalin-Kampagne und die Liberalisierung Entwicklungen in Gang setzen, die 1965 zur Zerstörung des Sowjetblockes geführt haben könnten. Ich habe mich gewundert, dass Du diese so wichtige Aussage eines so wichtigen Mannes ignoriert hast.)

7. Für die Entwicklung der “indirekten Strategie” waren die Entwicklungen in Polen und Ungarn nach dem 20. Parteitag ganz besonders bedeutsam. Deshalb ist die Reaktion der imperialistischen Seite auf diese Entwicklung so besonders wichtig, und zwar die unmittelbare Reaktion, nicht erst die spätere Reflexion über diese Ereignisse. Das gilt erst recht für die unmittelbaren Reaktionen auf die Niederschlagung der ungarischen Konterrevolution. Eine recht eindrucksvolle “Lehre” aus diesem Ereignis wurde in einem Artikel eines kanadischen Militärs namens Goodspeed in der “Allgemeinen Militärrundschau”, Oktoberheft 1957, gezogen. Dort war (in der deutschen Zu-sammenfassung, S. 338ff.) zu lesen: “Die Ereignisse in Ungarn beleuchten klar die Probleme, die jede Volkserhebung aufwirft, insbesondere die Frage der Leitung einer solchen Erhebung. … Wenn die öffentliche Meinung die neuen Ideen teilt, hat man eine Revolution oder einen Staatsstreich. … Der Staatsstreich muss dem Wunsch der Bevölkerung entsprechen und darf nicht die Gegnerschaft der Armee riskieren. Er braucht eine eingehende Vorbereitung, damit er nicht in einen Bürgerkrieg ausartet. … Man kann bei dem Vorgang drei Phasen unterscheiden: die vorbereitende Phase …, dann die Phase des Angriffs, bis die Macht in neue Hände übergegangen ist und schließlich die Phase der Konsolidierung. … Die Vorbereitung: … sie weist einige allgemeingültige Grundsätze auf: zunächst die Herstellung der Übereinstimmung mit der Öffentlichkeit gegen die Regierung, indem gewisse gut ausgewählte Maßnahmen der Regierung im schlechtesten Licht dargestellt werden: … hinderliche Persönlichkeiten sind auszuschalten, am besten durch den Tod …”

Ich führe Dir dies als Beispiel dafür an, welch interessante und wichtige Funde gemacht werden, wenn man sich nicht auf die “Sekundärliteratur” beschränkt. Als bequemste und zugleich unent-behrliche “Primärliteratur” im oben genannten Sinne würde ich Dir das “Archiv der Gegenwart” empfehlen.

8. Nach der Niederschlagung der ungarischen Konterrevolution hielt Tito eine äußerst auf-schlussreiche Rede in Pula (ich habe in meinem Thesenartikel daraus zitiert). Sowohl diese Rede wie ihre Aufnahme und Kommentierung im imperialistischen Lager muss man studieren ebenso wie die Einschätzungen der Besuche Chrustschows bei Tito in Brioni, um zu den Quellen der Entstehung der “indirekten Strategie” vorzudringen. Im weiteren nenne ich Dir nur noch stichwortartig weitere Ereignisse, die in gleicher Weise Beachtung erfordern:

9. der Sturz Shukows als Verteidigungsminister 1957,

10. die Beratung der Kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau 1957,

11. die Aufnahme des Laibacher Programms des BDKJ von 1958 in Ost und West,

12. der Sieg der Kubanischen Revolution 1959,

13. Chrustschows USA-Besuch 1959,

14. der 22. Parteitag der KPdSU 1961.

15. Das imperialistische Echo auf den Sturz Chrustschows 1964, Okt.: Auf S. 55 stellst Du fest: “Im Jahre 1965 trat faktisch ein Stillstand im wirtschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen den Vereinigten Staaten und den sozialistischen Ländern ein.”

Wie erklärst Du das? “Die Widersprüchlichkeit der amerikanischen Politik beschleunigte den Zerfall der imperialistischen Einheitsfront und ließ auch die amerikanische Ostpolitik bald stag-nieren.”

Ich vermisste hier sehr eine Überlegung darüber, wie sich wohl das Verschwinden des Mannes an der Spitze der SU auf die imperialistischen Strategen auswirken musste, die sich seit spätestens 1956 daran gewohnt hatten, mit dem antistalinistischen Liberalisierungskurs Chrustschows als einer festen, einkalkulierbaren Größe zu rechnen. Du siehst aber merkwürdigerweise zwischen dem Sturz Chrustschows und einer Stagnation im West-Ost-Verhältnis überhaupt keinen Zusammenhang. In der Tat aber musste jetzt im Westen erst einmal abgewartet werden, was sich nun im Osten als Folge dieses unerwarteten Wechsels an der Spitze an neuen Tendenzen innen- und außenpolitisch zeigen würde. Nur ein Beispiel: Der Westen hatte von Chrustschow als die feste Gewissheit erhalten, dass er im Jahre 1964 den endgültigen Bruch mit China im sozialistischen Lager durchsetzen werde. Statt dessen ergab sich nun eine Wiederannäherung – Reise Kossygins nach China, Einschwenken der sowjetischen Außenpolitik auf die chinesische Linie im Streit um die “Generallinie der Außenpolitik”. Allein das Beispiel macht deutlich, dass für die imperialistischen Konzeptionen der Sturz Chrustschows von außerordentlicher Bedeutung war. Würde die Sowjetunion, ihre neue Führung, soweit gehen, Maos Kritik am Chrustschow-Revisionismus zu übernehmen? Das musste doch erst klar werden, bevor man sich selbst entscheiden konnte, wie man sich künftig zur SU verhalten sollte.

16. Aus der Nach-Chrustschow-Zeit will ich nur noch den “Prager Frühling” und seine Beendigung durch den “August 1968” nennen.

Die Liste ist zwar lang, aber dennoch unvollständig. Es ist indessen meine feste, durch eigenes Studium gewonnene Überzeugung: ohne die zeitgenössische Reaktion des Imperialismus auf die Vorgänge im gegnerischen Lager zu kennen, wie sie eben nicht aus späteren Büchern zu ersehen ist, sondern aus den unmittelbaren Reaktionen und Reflexionen in den führenden imperialistischen Selbstverständigungsorganen, ist die Materialgrundlage für eine Analyse der imperialistischen strategischen Konzeptionen zu lückenhaft und zu subjektiv “gefiltert”.

Natürlich kannst Du mit Recht einwenden, dass Du keine Zeit hast, eine solche umfassende For-schungsarbeit zu leisten. Aber dann muss man sich eben darüber klar sein, dass man angesichts einer so unzulänglichen Materialgrundlage auch keine fundierten Aussagen über den Ursprung und die Entwicklung imperialistischer Konzepte gegen den Sozialismus treffen kann, sondern nur sehr zurückhaltende und vorsichtig formulierte.

Damit komme ich zum Punkt 3, zu den Thesen in Deiner Arbeit, die mir ungenügend belegt oder gar nicht haltbar erscheinen.

Da ist erstens Deine Darlegung über das Primat der Politik. Du schreibst (S. 7): Im Rahmen der Entwicklung des staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus “erwarb der Imperialismus zugleich die strukturelle Fähigkeit zur Realisierung eines Primats der Politik”.

Ich meine, das Primat der Politik bringt nichts anderes zum Ausdruck (im Kapitalismus) als eine Selbstverständlichkeit: Herrschaftssicherung rangiert vor Profitsicherung!

Beispiel 1918: Abschluss des Arbeitsgemeinschaftsabkommens zwischen Stinnes und Legien. Stinnes als Repräsentant des reaktionärsten, aggressivsten Flügels des deutschen Monopolkapitals, der vor der Revolution selbst gegen die geringsten Zugeständnisse an die Arbeiterklasse Sturm gelaufen war, ist zu profitschmälernden Regelungen bereit, wie 8-Stundentag, Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifpartner, usw. usf., um die Herrschaft des Kapitals zu retten. Das Primat der Politik vor der Ökonomie ist ein Lebensgesetz für den Kapitalismus wie für den Sozialismus. (Für den Sozialismus hat das Lenin in seiner Arbeit “Noch einmal über die Gewerkschaften”, Bd. 32, S. 73, kurz und knapp formuliert: “Die Politik hat notwendigerweise das Primat gegenüber der Ökonomik. Anders argumentieren heißt das ABC des Marxismus vergessen.”) Das ist unabhängig vom Grad der Entfaltung des Kapitalismus oder vom Eintritt in das Stadium des staatsmonopolistischen Kapitalismus. (Ich habe mich mit diesem Problem herumgeschlagen in einer Arbeit: “Economy and Politics in the Destruction of the Weimar Republic, in: Radical Perspectives on the Rise of Fascism in Germany, 1919–1945, Monthly Review Press, New York, 1989, S. 150ff.)

Zweitens: Zum Verhältnis von konfrontativer und “indirekter” Strategie: Du machst einen scharfen Schnitt: Erste Phase des kalten Krieges – Konterrevolution durch Konfrontation und nukleare Erpressung – zweite Phase: indirekte Strategie – Konterrevolution durch Kooperation und flexiblen Einsatz ökonomischer, politischer und militärischer Druckmittel.

Im Groben gesehen – stimmt eine solche Einteilung. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass man relativieren muss: Es handelt sich mehr darum, dass in der einen Phase die eine, in der anderen Phase die andere Strategie dominiert. In beiden Phasen sind aber Elemente beider Strategien fest-stellbar. Das hängt zum einen damit zusammen, dass es auf der imperialistischen Seite ständig nebeneinander Fraktionen gibt, von denen die eine mehr zur einen, die andere mehr zur anderen Strategie neigt. Zum anderen hängt die Entscheidung für die eine oder die andere Strategie auch von der Reaktion der sozialistischen Seite ab; solange es auf der sozialistischen Seite niemand gibt, der auf die indirekte Strategie “positiv” reagiert, werden sich ihre Verfechter auf der imperialisti-schen Seite nicht durchsetzen können. Und umgekehrt! Letzterer Gesichtspunkt kommt mir bei Dir, wie mir scheint, zu kurz.

3. Ich denke, das hängt zusammen mit Deinem grundlegenden Erklärungsschema, das meiner Ansicht nach nicht haltbar ist. Nach diesem Erklärungsschema ist der Übergang zur indirekten Strategie erzwungen durch den Verlust der atomaren Erpressbarkeit der SU mit dem Eintritt in die Phase des atomaren Patts. Du sagst zwar (S. 26): “Die indirekte Strategie, zu der das imperialis-tische Lager im Laufe der sechziger Jahre … überging, ruhte … auf zwei Voraussetzungen: 1. …; und 2. auf den ersten Ansätzen eines Verfalls sozialistischer Strategie und Taktik, durch die die Variante einer Zersetzung des Sozialismus, vermittelt über die Zersetzung der kommunistischen Parteien, überhaupt erst zu einem möglichen Lösungsweg wurde. Die opportunistischen Tendenzen im Sozialismus waren daher die Grundbedingung für die Möglichkeit der indirekten Strategie”. Aber erstens setzt Du den Übergang zur “indirekten Strategie” auch hier zu spät an; zweitens haben wir es ja längst nicht mehr mit “ersten Ansätzen” und nur mit “opportunistischen Tendenzen” zu tun; vor allem aber spielt die Untersuchung dieser “Grundbedingung für die Möglichkeit der indirekten Strategie” weiterhin in Deiner Arbeit keine Rolle. Indem Du sie als Grundbedingung erwähnt hast, hat sie in Deiner Arbeit ihre Rolle auch schon ausgespielt.

Die These: “Chrustschows Politik erklärt sich aus der atomaren Erpressbarkeit der Sowjetunion angesichts der atomaren Überlegenheit des Imperialismus (s. S. 27 u.), der Übergang zur indirekten Strategie aus dem Ende dieser Erpressbarkeit infolge der Zweitschlag-Fähigkeit der SU” hat bei Dir die Qualität eines Axioms, das weder bewiesen zu werden braucht noch widerlegt werden kann. Deshalb kann jede andere Erklärung ignoriert werden, bedarf keinerlei ernsthafter Beachtung.

Das hat zur Folge, dass Du die Sonde einer scharfen marxistischleninistischen Analyse, die Du einem Gorbatschow gegenüber so hervorragend anzuwenden weißt, gegenüber der Politik eines Chrustschow erst gar nicht anzuwenden versuchst: Du weißt ja ausreichend darüber Bescheid, wie sie zu erklären ist.

Ich könnte mir denken, dass dies damit zusammenhängt, dass Du den Gorbatschow-Revisionismus als Zeitzeuge erlebt hast und Dich mit ihm persönlich auseinandergesetzt hast, während die Ent-wicklungen ab 1953 vor Deiner Zeit liegen und Du bei ihrer Deutung auf die Zeugnisse anderer angewiesen bist. Aber genau das ist ein Grund mehr, bei der Untersuchung dieses Zeitabschnitts besonders gründlich zu sein, und sich nicht auf ein Erklärungsmuster festzulegen oder festlegen zu lassen.

Ich sagte, dass das von Dir vorgeführte Erklärungsmuster nicht haltbar ist. Warum? Weil es erstens mehr Fragen aufwirft als erklärt, und weil es einfach mit der Chronologie der Ereignisse im Wi-derspruch steht.

Nehmen wir die Feststellung von Dir (S. 30): “Der Imperialismus verfügte, wie gezeigt wurde, seit dem nuklearen Patt über kein Mittel mehr, um die kommunistischen Parteien zu einem seinen Forderungen entsprechenden, d. h. opportunistischen Kurs zu zwingen.” In diesem Satz steckt in nuce der Kern Deines fehlerhaften Grundschemas. Der Imperialismus verfügte zu keinem Zeitpunkt über ein Mittel, die kommunistischen Parteien zu einem opportunistischen Kurs zu zwingen! Nicht einmal zur Zeit des absoluten USA-Atombomben-Monopols! Sonst wäre nämlich nicht nur West-, sondern ganz Europa marshallisiert worden!

Alles hing immer davon ab, ob an der Spitze der Parteien Kommunisten, Marxisten-Leninisten standen, oder Revisionisten, die sich nur zu gerne auf einen “opportunistischen Kurs” “pressen” ließen.

Das ist doch durch die Geschichte der Sowjetunion bis 1953 bewiesen, oder?

Wieso soll die SU mit Atombomben und im Bündnis mit Volkschina erpressbarer gewesen sein, als die SU 1945-1951?

Du führst als “Beweis” für die Erpressbarkeit ein Zitat aus Kennedys Buch “Der Weg zum Frieden” an, in dem er sagt, die USA hätten ein Monopol in zweifacher Weise gehabt: “Wir allein besaßen nukleare Waffen, und wir allein verfügten über die Mittel, sie an ein militärisches Ziel zu bringen.” (S. 46)

Das Monopol der Atombombe wurde 1949 gebrochen, es blieb aber – wie Du meinst – die Er-pressbarkeit erhalten bis zu den sowjetischen Weltraumraketen, weil nach wie vor nur die USA “über die Mittel verfügten, Atomwaffen an ein militärisches Ziel zu bringen”.

Aber auch das stimmt ja so nicht. Erstens bot Westeuropa genügend militärische Ziele für sowje-tische Atombomber, deren Wirkung verheerender gewesen wäre, als amerikanische Bomben auf sowjetische Städte, ganz abgesehen davon, dass die möglichen Ziele ja auf beiden Seiten durch einen wirksamen Abwehrgürtel zu schützen waren. Also wenn schon zur Zeit des Atombom-benmonopols – wie erwiesen –, die SU nicht erpressbar war, dann war sie es nach 1949 schon gar nicht mehr. Die von Dir angenommenen “Erpressungen zum Opportunismus” liegen aber allesamt in der Zeit nach Stalins Tod, also nach 1953, können also nicht Ergebnis einer tatsächlichen nicht abzuwehrenden Erpressung gewesen sein.

Also ist diese Deine Erklärung, weil durch Tatsachen widerlegt, nicht aufrechtzuerhalten. Chrustschows Politik müssen also andere Motivationen zu Grunde liegen.

Welche, das ist ja nicht zu schwer auszumachen, wenn Du an seine Politik die gleichen Maßstäbe anlegst, wie an jene Gorbatschows. Deine ausschließlich auf äußeren Druck festgelegte Erklärung des Opportunismus in der SU hat eine fatale Folge:

Während normalerweise eine marxistische Erklärung der Außenpolitik eines Landes diese aus den inneren Verhältnissen, den Interessen der die Politik bestimmenden Kräfte ableitet, ist in Deiner Arbeit dafür überhaupt kein Platz. Dein Teil III beschäftigt sich nur mit der sowjetischen Au-ßenpolitik, und nach dem, was in Teil II zu lesen war, werden die Veränderungen in der sowjeti-schen Außenpolitik nach 1953 (Punkt III/1 Deiner Gliederung) entscheidend auf den Druck von außen zurückgeführt werden. Das heißt aber, dass die tatsächlichen Ursachen für diese Verände-rungen außer Betracht bleiben.

Weiter: Die wesentlichen Veränderungen der sowjetischen Politik unter Chrustschow sind nicht außenpolitischer Art, sondern liegen in der Innenpolitik, und können in keiner Weise mit äußerem erpresserischen Druck erklärt werden.

Was nach Stalins Tod in der Sowjetunion geschah, war ein innenpolitischer Machtkampf, dessen Inhalt der Versuch der Gruppe Chrustschow/ Mikojan u. a. zur Ausschaltung aller Verteidiger der Fortführung einer marxistisch-leninistischen Gesamtpolitik war.

Was nach 1953 vor sich ging, war ein in Stufen und mit erheblichen Rückschlägen ablaufender revisionistischer Staatsstreich, der von imperialistischer – vor allem US-imperialistischer – Seite wohl berechnete Schützenhilfe und Rückendeckung erhielt. Die Akteure mit Chrustschow an der Spitze waren 1936ff. noch einmal dank skrupellosen Falschspiels davongekommene Angehörige der Anti-Stalin-Opposition, die ihre Stunde nach Stalins Tod ebenso für gekommen erachteten, wie das Trotzki nach Lenins Tod getan hatte. Die einzelnen Stufen ihres Machtkampfes und ihrer Machteroberung lassen sich etwa so beschreiben:

1) Eine der allerersten Stufen war die Ausschaltung Berijas im Sommer 1953. Je mehr darüber bekannt wird, desto fragwürdiger werden die gegen Berija erhobenen Beschuldigungen, und umso deutlicher wird, wie viele Fragen da noch offen sind. (Nach der Lektüre “Der Fall Berija. Protokoll einer Abrechnung” sind es mehr denn je. Am unerklärlichsten, dass damals Molotow, Malenkow, Bulganin – die späteren Opfer Chrustschows – mit dem und seinem Spezi Mikojan in scheinbar vollem Einverständnis stehen.)

2) Weitere Stufe: Januar 1955: Abservierung Malenkows.

3) Eine weitere entscheidende Stufe, 1955: Die Tito-Rehabilitierung. (Der Witz: Die Absicht, die Beziehungen zu Jugoslawien zu normalisieren, werden 1953 Berija noch als todeswürdiges Ver-brechen angelastet!) Diese Stufe bedeutet die Rehabilitierung aller Tito-Revisionisten in allen sozialistischen Ländern und Legalisierung ihrer weiteren Zersetzungsarbeit. (Nur Albanien wehrt sich mit Erfolg.)

4) Hauptstufe 20. Parteitag Februar 1956: Ganz offizielle Ersetzung des Leninismus durch Ti-to-Revisionismus in Fragen der Revolution, des Friedenskampfes und anderer Fragen. Erstmalige Einführung des Anti- Stalinismus als offizielle Grundlage der Geschichtsinterpretation der KPdSU und als Hauptinstrument der Zersetzung der kommunistischen Weltbewegung.

5) Von Chrustschow und Tito gemeinsam betriebene Ausweitung des revisionistischen Staats-streiches durch Installation ihres Bundesgenossen Imre Nagy in Ungarn, Gomulka in Polen 1956. Damit Bildung eines Viererbundes revisionistischer Staaten: Jugoslavien – Chrustschow-SU, Ungarn – Polen.

6) Unmittelbare Folge: Umgehender Versuch (Imre Nagy mit Tito im Rücken und anfänglicher sowjetischer “Nichteinmischung”) ein Land (Ungarn) mit Hilfe der NATO aus dem Warschauer Pakt herauszubrechen.

Dieser Versuch scheitert und führt zu einem schweren Rückschlag für die Revisionisten: der ju-goslawische Tito-Revisionismus wird von der kommunistischen Weltbewegung 1957 und sogar noch einmal 1960 als Hauptgefahr erkannt und bezeichnet (Moskauer Beratungen).

7) Juni 1957: Der Versuch, Chrustschow in einer Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU abzusetzen, scheitert: der Absetzungsbeschluss des Präsidiums wird durch eine von Chrustschow-Leuten eiligst einberufene ZK-Tagung für ungültig erklärt und statt dessen die füh-renden Köpfe der leninistischen Mehrheit des Präsidiums, Molotow, Kaganowitsch, aus der Par-teiführung beseitigt. Damit hat der revisionistische Staatsstreich in Stufen einen seiner folgen-schwersten Erfolge erzielt. Dennoch erleidet er kurz danach einen neuerlichen Rückschlag durch die Absetzung des wichtigsten Chrustschow-Parteigängers unter den Militärs, Shukow als Ver-teidigungsminister, und dessen Ersetzung durch Malinowski, einen zuverlässigen Kommunisten (Oktober 1957).

8) Im März 1958 bootet Chrustschow den letzten Übriggebliebenen aus der “kollektiven Führung” von 1953 aus: Bulganin, bis dahin Ministerpräsident der UdSSR-Regierung. Diese Position über-nimmt er nun selber. Der Aufstieg Chrustschows vollzieht sich also über die wirklichen und poli-tischen Leichen seiner “Mitkämpfer”: Berija, Malenkow, Molotow, Bulganin – zum Inhaber einer Machtfülle, wie sie nicht einmal Stalin in seiner Hand vereinigte. Aber noch sind seine Gegner nicht völlig geschlagen, auch sind unter denen, denen er seine Mehrheiten verdankt, mehrheitlich Leute, die ihn sofort davonjagen würden, wüssten sie, welche Rolle er in Wahrheit spielt. Und noch sitzen in entscheidenden Positionen einflussreiche Gegner: Kossygin, Gromyko, Suslow, Woroschilow u. a. Sie auszuschalten, hat der 20. Parteitag nicht gereicht. Deshalb muss ein neuer 20. Parteitag her, als neue und endgültig zum Ziel führende Stufe.

9) Oktober 1961, 22. Parteitag: Verstärkte Neuauflage der Anti-Stalin- Hetze, aber mit verscho-benem Akzent: Nicht mehr Stalin ist der Schlimmste, sondern seine Ratgeber: Molotow, Kaganowitsch. Chrustschow lässt seine Leute aufmarschieren, die alle seine Gegner in unflätigster Weise beschimpfen und als “Parteifeinde” abstempeln, die ausgeschlossen werden müssen. Dabei wird zum ersten Mal deutlich, dass damals, im Juni-Plenum 1957, die überwältigende Mehrheit des Präsidiums gegen Chrustschow stand; deshalb wird nun sogar Woroschilows als Parteifeind an-geprangert und sein Ausschluss verlangt. Ebenfalls Perwuchin, späterer SU-Botschafter in Berlin (von Abrassimow abgelöst).

Um seine Position in der Bevölkerung zu festigen, lässt Chrustschow auf diesem Parteitag auch sein Fata-Morgana-Programm vom Einholen der USA in 10, und vom Kommunismus in 20 Jahren annehmen. Dass dieses Programm angenommen werden konnte, zeigt, wie tief im revisionistischen Sumpf die KPdSU zu dieser Zeit bereits steckte. Andererseits aber erreichte Chrustschow auch diesmal sein Ziel der völligen Ausschaltung aller aktuellen und potentiellen Gegner nicht. Besonders deutlich an der Weigerung des Parteitages, Woroschilow aus der Partei auszuschließen. Die alten Gegner blieben, neue erwuchsen ihm im gleichen Maße, wie die giftigen Früchte seiner Zersetzungsarbeit reiften und die Katastrophe, in die er das Land führte, deutlich wurde.

1964, kurz bevor er sein “Meisterstück”, den vollen Bruch mit China, vollbringen wollte, wurde er – im Oktoberplenum von 1964 – abgesetzt.

Die revisionistische Hydra war enthauptet, aber neue Köpfe waren schon nachgewachsen und warteten auf ihre Zeit – die Zeit der “Generation des 20. Parteitags”, wie Fjodor Burlatzi – An-gehöriger dieser Generation, Bewunderer Chrustschows und Verfasser einer lesenswerten Chrustschow-Biographie, Berater Breshnews, Andropows und Gorbatschows – in der Chrustschow-Biographie schrieb.

Hoffentlich sagst Du mir jetzt nicht: wozu erzählt er mir das alles, das kenne ich doch schon längst!

Ich erzähle es Dir noch einmal – in der Taubenfuß-Chronik konntest Du es ja schon lesen –, weil ich mich darüber wundern musste, dass Du für all die Dinge, von denen jetzt die Rede war, in Deiner Arbeit konstant nur den gleichen Terminus “opportunistische Ansätze” übrig hast. Damit bleibst Du tatsächlich sogar hinter Brzezinski zurück, der immerhin davon sprach, dass die offizielle Ideologie (im Osten) “revisionistische Elemente in sich aufgenommen” habe und davon, dass “die alten Ideologen … diskreditiert und mundtot gemacht (wurden) oder (sich) selbst immer mehr zu Revisionisten” entwickelt hätten (Bei Dir auf S. 59). Aber auch Du selbst hast doch den 20. Parteitag schon viel treffender gekennzeichnet als nur als einen “opportunistischen Ansatz”!

Und solch ein offenkundiger Machtkampf zwischen Revisionisten und Marxisten-Leninisten in der KPdSU und innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung soll nur eine Folge impe-rialistischer Erpressung sein?

Die unermüdlichen Bemühungen Chrustschows, Tito und seinen revisionistischen BdKJ trotz aller Widerstände immer wieder als ehrenwerten Kommunisten und echte Kommunistische Partei in die Festung hereinzuholen – alles nur auf imperialistischen Druck? Die von Chrustschow immer wieder neu angefachte, hasserfüllte Anti-Stalin-Hetze – nur Reaktion auf eine imperialistische Erpressung?

Nein, Sahra, wenn Du Dich mit Chrustschow und seinem Treiben genau so gründlich beschäftigt haben wirst, wie mit dem Gorbatschows, dann kannst Du zu keinem anderen Ergebnis kommen als dem, dass ein “Nikita” nicht erst von den Imperialisten auf die Seite Titos gepresst werden musste, sondern dass sie beide Brüder im revisionistischen Geiste waren! Und damit freiwillige Gehilfen des Imperialismus bei der Unterminierung des Sozialismus.

Gab es keine Atomerpressung? Ja, natürlich gab es die. Aber sie wurde gemeinsam von den Im-perialisten und den Revisionisten gegenüber den Völkern angewandt. Beide heizten die Atom-kriegsfurcht an, um die Widerstände innerhalb der Partei gegen die Politik “vertrauensvoller Zu-sammenarbeit” mit dem Imperialismus zu überwinden, indem sie auf ihren “Gipfel”-Gesprächen mit faulem Zauber wunderbare “Entspannungslösungen” aus dem Hut zauberten und sich so mit dem Nimbus der “Friedensretter” unangreifbar machten – wenigstens bis zur nächsten gefährlichen Zuspitzung der Lage. Dieses Spiel wurde mehrfach wiederholt.

Die Unhaltbarkeit Deiner These vom Übergang zur indirekten Strategie als Folge des atomaren Patts zeigt sich unter anderem auch in den Schwierigkeiten, die Du bei dieser Deutung mit der Chronologie bekommst. Hättest Du in der Chronologie genauer hingeschaut, dann wäre Dir auf-gefallen, dass die Ansätze zum Übergang von der Domination der Konfrontationspolitik zur Be-vorzugung der indirekten Strategie weit vor dem Erlangen des atomaren Patts liegen; dass ein Schlüsselereignis für diesen Trendwechsel der 20. Parteitag ist. Auf S. 63 erwähnst Du Brzezinskis Feststellung, eine allmähliche Umorientierung der amerikanischen Ostpolitik sei “ab 1957 zu verzeichnen”. (In Wahrheit schon etwas früher – siehe die Dulles-Erklärung!) Aber auch bei der Nennung des Jahres 1957 ist der Zusammenhang mit dem 20. Parteitag offenkundig.

Auf der gleichen Seite kommentierst Du Ausführungen Brzezinskis wie folgt: “D. h., das ent-scheidende Resultat, das die Entspannung als Überbau der indirekten Strategie erreichen kann, ist eine Erosion des Grundbausteins der sozialistischen Weltanschauung: der Einsicht in die Unver-söhnlichkeit des Klassen- und Systemgegensatzes.”

Wie verhält es sich in Wirklichkeit? Die Erosion, die Du als das prognostizierte Resultat der “in-direkten Strategie” bezeichnest, hatte ja, wie der 20. Parteitag vor aller Welt offenbarte, bereits begonnen, und zwar nicht von außen angeregt, sondern von innen: Die Thesen des 20. Parteitags stellen den Beginn der Erosion des Grundbausteins der sozialistischen Weltanschauung dar. Deshalb besteht die wirkliche Aufgabe der indirekten Strategie nicht darin, diese Erosion einzu-leiten, sondern darin, zu sichern, dass jene Kräfte in der Sowjetunion das Heft in der Hand behal-ten, die diese Erosion begonnen und weitergetrieben hatten, und ihnen dabei zu helfen, dass in allen anderen sozialistischen Ländern die gleichen Kräfte die Oberhand gewönnen, so sie sie noch nicht haben sollten.

Die indirekte Strategie soll also nicht einen Prozess in Gang setzen, sondern die Zuendeführung des bereits in Gang befindlichen Prozesses sichern. Deine Formulierung von den bereits vorhandenen “opportunistischen Ansätzen” reicht in keiner Weise aus, diese Zusammenhänge klarzustellen (vgl. auch S. 50). Soviel und so lang zu meinem Grundeinwand gegen Deinen Erklärungsversuch.

Ich hoffe, Dich nicht gar zu sehr zu nerven, wenn ich nun noch meine Einwände zu einigen anderen Deiner Aussagen vorbringe.

Du stellst richtig fest, dass man in der SU und im sozialistischen Lager a) nicht vermochte, die wissenschaftlich-technische Revolution zu meistern, b) nicht vermochte – im Gegensatz zum Imperialismus –, die internationale Zusammenarbeit zu organisieren. Habe ich übersehen, ob Du auch eine Erklärung dafür siehst? Wenn man, wie ich, in der Entwicklung nach ‘53 einen stu-fenweise verlaufenden revisionistischen Staatsstreich sieht, liegt die Erklärung dafür auf der Hand. Wie aber erklärt man das, wenn man nur “opportunistische Ansätze” ausmacht?

Nicht folgen kann ich Dir bei Deiner These vom “Zerfall der antisozialistischen Klassenstrategie” (S. 21ff) und der von Dir auf S. 24 geschilderten “Wer-Wen”-Situation. Wenn Du schreibst: “Es bestand daher am Beginn der sechziger Jahre die reale Chance, dass die antisozialistische Koalition sich auflöst und die imperialistische Klassenstrategie … untergeht”, dann sehe ich in der Wirk-lichkeit der beginnenden 60er Jahre einfach überhaupt keinerlei Fakten, auf die eine solche Aussage gestützt werden könnte.

Richtig ist, dass angesichts der krisenhaften Entwicklungen im sozialistischen Lager die Eigenin-teressen der NATO-Staaten mehr Bewegungsraum zur Artikulierung erhielten, ohne dass be-fürchtet werden musste, dass daraus die sozialistische Gegenseite erheblichen Vorteil für sich gewinnen könnte. Eher rechnete man – und dies nicht ohne Berechtigung – darauf, dass die Lo-ckerungstendenzen im eigenen Lager die nationalistischen Tendenzen zum Ausbruch aus dem Warschauer Vertrag und die Annäherung an Weltwirtschaftsfonds und Weltbank auf der anderen Seite anspornen würden. Die NATO war aber nie in Gefahr, zu zerfallen; der Austritt Frankreichs aus dem Militärabkommen der NATO bedeutete keineswegs eine Infragestellung der NATO ins-gesamt. Und Chrustschow tat – wie ich argwöhne, durchaus im Konsens mit Kennedy – alles mit seinen “Berlin-Drohungen”, um den USA-Bundesgenossen klarzumachen, dass man schleunigst wieder zur alten Allianz-Festigkeit zurückkehren müsse. In der Tat vermerkte die Westpresse, dass Chrustschow sich um den Zusammenhalt der NATO verdient gemacht habe.

Keiner der von Dir zitierten Autoren spricht wie Du vom “Zerfall” und der “Wiederherstellung” der antisozialistischen Koalition (69). Kennedy spricht nur davon, es gelte, die Einheit des eigenen Blocks zu erhalten (S. 51 unten).

Es wäre ja auch zu merkwürdig, wenn angesichts der Existenz einer sozialistischen “Supermacht”, wie die SU es war, von der noch absolut unklar war, ob sich der Chrustschow-Kurs halten würde, und der Existenz “Rotchinas” sowie der soeben erst erfolgten siegreichen antiimperialistischen Revolution vor der Haustür der USA in der imperialistischen Welt das Bewusstsein verschwunden oder auch nur in Gefahr geraten wäre, zu verschwinden, dass man die antisozialistische Allianz um keinen Preis aufgeben darf. Daran denkt ja selbst jetzt keiner, da das Ziel der antisozialistischen Allianz wenigstens gegenüber der SU und Osteuropa erreicht ist.

Zur Terminologie: Du benutzt im Zusammenhang mit den Ausführungen über den “Zerfall der antisozialistischen Klassenstrategie” den Begriff der “westeuropäische Imperialismus”. Gibt es den schon, den westeuropäischen Imperialismus? Ist in einem solchen der deutsche, französische, englische und italienische Imperialismus schon aufgegangen?

Auf S. 22 sprichst Du davon, dass sich Ende der fünfziger Jahre in den USA wie in der SU ein konvergierendes Interesse an einer vorläufigen Festschreibung des status quo ergeben habe, ein begrenzter sowjetischamerikanischer Bilateralismus. Du erklärst das amerikanische Interesse daran damit, dass die USA über Abmachungen mit der sowjetischen Führung die eigene Hegemonie in der westlichen Welt stabilisieren wollten. Das stimmt sicherlich. Aber es gibt noch ein weiteres Interesse: der amerikanisch-sowjetische Bilateralismus hatte eine noch stärkere antichinesische Stoßrichtung! So war das Teststop-Abkommen in allererster Linie gegen Volkschina, erst in zweiter gegen Frankreich gerichtet. Und der Bruch Chrustschows mit China 1960 fällt nicht zufällig in eben diese Zeit des Honigmondes der amerikanisch-sowjetischen “Freundschaft” (Auswirkungen des “Geistes von Camp David”).

Übrigens ist dies der entscheidende Grund dafür, dass mir de Gaulles Stellungnahme zum sowje-tisch-chinesischen Konflikt auf dem Kopf zu stehen scheint. Wie Du schreibst (S. 39), war de Gaulles Berechnung, die Sowjetunion könne man wegen des Konflikts mit China in Europa zu größeren Kompromissen zwingen. Eine solche Annahme übersieht völlig, dass der Konflikt vor-sätzlich von Chrustschow vom Zaune gebrochen und verschärft wurde – eben im Gefolge der “Verständigung” in Camp David und anderswo mit der Führung der USA, und dafür als “Preis” die Zusage der Respektierung des status quo erhielt (vorläufig, wie Du richtig schreibst).

Die von Dir (S. 35) erwähnte Annäherung der USA an China erfolgte erst unter Nixon. Es wird von Dir aber nicht erwähnt, dass Nixon von Peking aus nach Moskau reiste und dort darum bemüht war, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen auf der gleichen Linie wie unter Eisenhower und Kennedy fortzuführen. Die Dinge liegen, wie mir scheint, komplizierter und müssten noch gründlicher durchleuchtet werden.

S. 35f: Bei Dir wird folgende Abfolge geschildert: Die Liberalisierung führt zur Untergrabung der sozialistischen ideologischen Hegemonie, und das habe dazu gezwungen, um dennoch die politi-sche Stabilität zu gewährleisten, ständig steigendes Konsumniveau zu sichern.

Der zeitliche Ausschnitt ist wieder zu kurz gewählt. Liberalisierung und Umstellung auf be-schleunigtes Wachstum der Konsumgüterindustrie gehen seit 1953 Hand in Hand. Seit Bucharins Zeiten ist die Frage nach dem schnelleren oder langsameren Wachstum von Produktionsgüter- und Konsumgüterindustrie ein Streitobjekt zwischen Leninisten und den Rechten in der kommunisti-schen Bewegung. Kaum war Stalin tot, wurde versucht, uns eine Bucharinsche Wirtschaftspolitik aufzuzwingen, unter Ausnutzung von Schwierigkeiten, die sich aus einer Überspannung der Planziele ergeben hatten (das sowjetische Diktat des “Neuen Kurses”). Nicht anders Chrustschow auf dem 20. Parteitag, und auch nicht anders Gomulka auf dem 8. Plenum der PVAP, das ihn wieder an die Spitze der Partei brachte. Gar nicht zu reden vom Programm des 22. Parteitages der KPdSU.

Zum Programm des Revisionismus gehört nicht nur die Untergrabung der ideologischen Hege-monie, sondern die Untergrabung aller Grundlagen des Sozialismus, in Wirtschaft, Politik und Ideologie. Daher läuft alles von Anfang an parallel und gleichzeitig.

Mir scheint, bei Deiner Schilderung schwebte Dir das DDR-Beispiel vor. Aber auch da sah es so aus, dass mit dem Antritt Honeckers als 1. Sekretär, schon vor einer Liberalisierung auch auf ideologischem Gebiet, die Versorgung mit Konsumgütern plötzlich sprunghaft verbessert wurde, – offenkundig, um sich auf diese Weise gegenüber dem Vorgänger positiv abzuheben. Obwohl Honecker kein Revisionist war, war das seit Chrustschow propagierte Konsumdenken so alltäglich geworden, dass sich nur die wenigsten darüber klar waren – Honecker ganz bestimmt nicht –, dass ein solcher Kurs der Wirtschaftspolitik zum Ruin führen muss. Zu seiner Entlastung muss aber gesagt werden, dass dank der Chrustschow-Desorganisierung der sowjetischen Wirtschaft und der Sabotage der Zusammenarbeit im RGW, bei Honeckers “Regierungsantritt” die DDR, auf sich allein gestellt, mit den Wirtschaftsproblemen genau so wenig fertig werden konnte, wie jedes andere sozialistische Land.

S. 51: Auf dieser Seite findet sich eine ganz wichtige Bemerkung Kennedys, die einen Schlüssel für die sowjetische China-Politik liefert:

Kennedy ist besorgt über die Anziehungskraft des chinesischen Beispiels, über die “verführerische Wirkung auf die unterentwickelten Nationen Asiens”. Was also musste für eine wirklich kom-munistische Führung in Moskau aus dieser dort ja nicht weniger gut als in Washington bekannten Lage die Konsequenz sein? Natürlich dies: alles zu tun, damit diese Anziehungskraft des chine-sischen Beispiels vergrößert wurde durch maximale Unterstützung Volkschinas! China musste das Land sein, mit dem die engste Zusammenarbeit praktiziert und dem die größte Unterstützung zuteil werden musste!

Was aber geschieht? Chrustschow fährt nach Indien – in das Land, in dem das chinesische Beispiel die größte und eine für die indische Bourgeoisie bedrohliche Vorbildwirkung hatte –, und hilft dort die Herrschaft der indischen Bourgeoisie zu stabilisieren, und rechtfertigt ihren Kampf gegen die Kommunstische Partei, indem er Nehru über den grünen Klee lobt und ihm bescheinigt, den Weg eines “indischen Sozialismus” eingeschlagen zu haben! Er betreibt also das Geschäft einer kon-terrevolutionären Feuerwehr in einem der aussichtsreichsten revolutionären Krisengebiete!

Aber damit nicht genug: Statt das für den Imperialismus unüberwindliche Bündnis Sowjetuni-on-Volkschina zu zementieren, betreibt er den Bruch mit China und verschwendet die nicht gerade im Überfluß vorhandenen Mittel der SU für das Projekt des Assuan-Staudammes, aus dem sich vorher gerade die USA zurückgezogen hatten. Begründet wird das mit der absolut unzutreffenden Behauptung, damit das Land Nassers – dieses Nationalisten und notorischen Antikommunisten! – aus dem Einflußbereich des US-Imperialismus herausgezogen zu haben. Ist es so schwer, in diesem Vorgang einen der “Verständigungspunkte” der Camp-David-Gespräche, der Gipfelgeheim-diplomatie zu erkennen? Und selbst, wenn es keine Absprachen gegeben hätte: Was ist über eine Politik zu sagen, die so eindeutig das Gegenteil dessen tut, was im Interesse der Stärkung des Sozialismus getan werden müsste? Alles nur “Erpressung”? Wieso lässt sich das viel schwächere China Mao-Tse- Tungs nicht “erpressen”? Wenn sogar das allein gelassene, von Chrustschow verratene China nicht erpressbar ist – wie sollte eine Sowjetunion, im engen Bündnis mit Volkschina vereint, erpressbar sein?

S. 52: Auch auf dieser Seite erwähnst Du eine Schlüsselbemerkung Kennedys, nämlich seine Feststellung, die USA müssten ihre Beziehungen zu den neutralen Staaten neu gestalten: “künftig gelte es, das Phänomen des Neutralismus zur Kenntnis zu nehmen und im Interesse der amerika-nischen Strategie bestmöglich zu nutzen”. Wie wurde das verwirklicht? In der Hauptsache über die “Blockfreien”, “Nichtpaktgebundenen”, wobei diejenigen, die den USA am wirkungsvollsten halfen, den Block der “Blockfreien” in ihrem Interesse “bestmöglich zu nutzen”, Tito und Nehru waren. Die Verwirklichung der US-Strategie des antisozialistischen Kampfes auf dieser Linie mit Hilfe des Chrustschow- Vertrauten Tito wäre eine Spezialuntersuchung wert; Überschrift: “Die Revisionisten im Block der Nichtpaktgebundenen als Verfechter der US-Strategie gegen den So-zialismus.”

Liebe Sahra, das Ding ist schon viel zu lang, ich mach’ hier einfach Schluss. Ich entschuldige mich dafür, dass ich in diesen Bemerkungen nur meckere und nichts darüber sage, was ich an Deiner Arbeit gut finde. Ich könnte aber wirklich noch mehrere Seiten füllen mit Bezeichnung der Ein-schätzungen, mit denen ich übereinstimme. Nur leider betrifft das nicht die “Generallinie” Deiner Analyse. Und darüber bin ich ziemlich betrübt, denn ich würde es – in erster Linie aus politischen Gründen, aber natürlich auch aus persönlichen – ganz schlimm finden, wenn sich die Leute, die in den Gegenwartsfragen in einer Front stehen und gegen einen gemeinsamen Gegner kämpfen, über unterschiedliche Einschätzungen der Vergangenheit und im Meinungsstreit darüber Schwierig-keiten bekämen im ferneren Umgang miteinander. Wie ich Dich bisher kenne, ist das aber nicht zu befürchten.

15. 7. 95

Liebe Sahra,

erst jetzt, nachdem ich mir Dein Buch gekauft habe – das Exemplar, das Du mir zugeeignet hast, habe ich jemandem geliehen, der es ganz schnell lesen wollte, aber ich hab mir nicht aufgeschrieben, wem, und fürchte nun, ich werde es nie wieder sehen –, habe ich angefangen, darin zu lesen, und natürlich begann ich mit dem Nachtrag. Da stehen nun Sachen drin, die mir Rätsel aufgeben, die nur Du lösen kannst; natürlich steckst Du tief in anderer Arbeit, und ich erwarte natürlich keinerlei umgehende Antwort. Andererseits will ich mit meiner Anfrage nicht warten – was man nicht sofort zu Papier bringt, geht im Trubel kommender Anforderungen unter.

Du hattest mir geschrieben, dass Du meine Hinweise nur zum Teil berücksichtigen konntest. Das war ja von Anfang an klar. Klar war auch, dass ich Dir meine Bemerkungen nicht in der Annahme oder Erwartung zugeschickt habe, Du würdest in allen Fällen meine Sicht der Dinge überzeugend finden. Verschiedene Sichtweisen auf Tatsachen sind aus den unterschiedlichsten Gründen normal und unvermeidlich. Meine Fragen und mein Unbehagen haben einen anderen Grund. Ich frage mich, ob Dir bewusst ist, dass Du Tatsachen, die im Widerspruch stehen zu Deiner Sicht der Dinge, einfach ausblendest, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Es geht dabei natürlich wieder um unseren Hauptstreitpunkt, um Deine These, der von Dir so genannte “Chrustschow-Opportunismus” – ( ich ziehe vor, vom Chrustschow-Revisionismus zu sprechen) – sei durch die atomare Erpressbarkeit der Sowjetunion zu erklären.

Du schreibst auf S. 166: “All dies geschah jedoch nicht, weil die erfahrene und marxistisch ge-bildete KPdSU-Spitze unversehens die Notwendigkeit und Ziele sozialistischer Politik vergessen hatte” – (dies Möglichkeit Nr. 1), “bzw. die revisionistischen Thesen plötzlich für die richtigen hielt;” – (dies Möglichkeit Nr. 2) – “(eine solche Annahme wäre absurd.)” Was bleibt also, wenn Erklärung 1 und 2 absurd sind?

Nach Deiner Darlegung nur noch eine einzige andere Möglichkeit: “Es geschah, weil die Sow-jetunion durch den Krieg wirtschaftlich ruiniert und durch das nukleare Übergewicht des Westens partiell erpressbar war; weil sie aufs dringendste eine Atempause benötigte, um ihre Wirtschaft zu sanieren und vor allem um ihren Rückstand im Nuklearbereich zu verringern. … Die Chrustschow-Politik bleibt unbegreiflich, (?!) sofern sie nicht als Politik bewusster Zugeständnisse an die gegnerischen Forderungen begriffen wird; Zugeständnisse, die unerlässlich schienen in einer Situation östlicher Schwäche und nuklearer Unterlegenheit”.

Mir scheint, dass Du hier eine Erklärung, die einstens für Dich die einzige war, um Dir die Chrustschow-Politik “begreiflich” zu machen, in den Rang der einzigen Erklärung für alle erhebst, die Chrustschow- Politik zu “begreifen”. Ein anderer Weg wäre gewesen, den Tatsachen Rechnung zu tragen und nüchtern festzustellen: diese Erklärung, die für mich seinerzeit die einzige war, die Chrustschow-Politik zu “begreifen”, ist nicht haltbar, weil im Widerspruch zu vielen gewichtigen Tatsachen, die ich seinerzeit nicht gesehen oder bedacht habe.

Um welche Tatsachen handelt es sich dabei? Wenn ich an sie jetzt erinnere, wiederhole ich mich, Du kannst das alles schon in meinen Bemerkungen lesen; aber ich muss mich wohl wiederholen:

Erstens: Wieso blendest Du völlig aus, dass die Sowjetunion sich zur Zeit des absoluten Atom-bombenmonopols der USA weder in Gänze noch “partiell” als erpressbar erwies? Muss ich Dich wirklich daran erinnern:

1. Fehlschlag des Trumanschen Erpressungsversuches auf der Potsdamer Konferenz!

2. Fehlschlag des Erpressungsversuches, ganz Europa unter den Hut des Marshall-Planes zu drü-cken!

3. Fehlschlag des Versuches, in Polen das Mikolaiczik-Regime fest zu installieren!

4. Trotz absolutem Atombombenmonopol: Offensive gegen das Trojanische Pferd des Imperia-lismus – den Tito-Revisionismus (1948).

5. Dito: 1948, Absetzung des Tito Freundes Gomulka als 1. Sekretär der PVAP in Polen.

6. 1948/49: Übergang in Polen, Tschechoslowakei u. a. Volksdemokratien von der antifaschis-tisch-demokratischen zur sozialistischen Revolution – trotz “nuklearem Übergewicht des Westens”.

Ich muss meine Frage wiederholen: Wieso ist für Dich die Sowjetunion, die – wie die Tatsachen zeigen – selbst unter den Bedingungen des absoluten US-Atombombenmonopols nicht zu einer opportunistischen Politik gepresst werden konnte, plötzlich erpressbar, nachdem sie das US-Monopol gebrochen hat, und nachdem dank der siegreichen chinesischen Volksrevolution das Lager des Sozialismus eine gewaltige Stärkung erfahren hat?

Zweitens: Du weißt doch, dass es außer der von Dir angebotenen Version, die Chrustschow-Politik “begreiflich” zu machen, eine andere gibt (die – im Gegensatz zu der Deinigen – den Vorteil hat, nicht in Gegensatz zu den Tatsachen zu geraten); es ist dies die Erklärung, dass Chrustschow das gleiche Ziel verfolgte wie Gorbatschow, aber vor dessen Erreichung stolperte, wodurch ein neu-erlicher Anlauf notwendig wurde; dass also mit Chrustschows “Machtergreifung” der antileninis-tischen Strömung in der Partei gelang, was sie bereits nach dem Tode Lenins vergeblich versucht hatte.

Selbst wenn man diese Erklärung für falsch hält, ist es unzulässig, zu verschweigen, dass es sie – und nicht nur Deinen Erklärungsversuch – gibt, zumal dies jene Erklärung ist, die von bedeutenden Marxisten- Leninisten wie Mao-tse Tung und anderen gegeben wurde. Bei Dir aber kommt es so heraus, als sei eine zwingende Schlussfolgerung und einzig mögliche Erklärung die von Dir ge-gebene.

Sie als nicht existent zu behandeln, verbietet sich umso mehr, als es nicht wenige Indizien dafür gibt, dass sie ins Schwarze trifft.

1. Jedem einigermaßen mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Kampfes der Bour-geoisie gegen sie Vertrauten ist natürlich bekannt, dass es eine der Hauptbemühungen des Klas-sengegners ist, die revolutionäre Bewegung von innen her zu zersetzen und entweder eigene Leute in Führungspositionen einzuschleusen oder aber führende Leute auf die eine oder andere Weise dazu zu bringen, für ihn zu arbeiten. Es ist das Natürlichste von der Welt, dass eben dieser Klas-sengegner alle seine Möglichkeiten dazu benutzt, eine Aufdeckung dieser seiner Bemühungen zu verhindern, oder, wenn dennoch geschehen, dies als lächerliche Erfindung, als Ausgeburt krank-hafter Agentenriecherei hinzustellen. Wie die jüngere Geschichte zeigt, mit nicht geringem Erfolg.

2. Immerhin wurde auf einem Plenum der KPdSU im Juli 1953 festgestellt, dass es dem Imperia-lismus gelungen sei, einen Agenten ins Zentrum der Macht, in die Führungsspitze von Partei und Staat zu implantieren. Ich spreche von dem bekannten Juli-Plenum über Berija. Es lohnt sich, einige Festestellungen dieses Plenums in Erinnerung zu rufen (Zitate nach: Der Fall Berija. Protokoll einer Abrechnung, Aufbau- Taschenbuch-Verlag, Berlin 1993).

“Man würde von den Grundlagen des Marxismus-Leninismus abrücken, würde man die Existenz der kapitalistischen Umkreisung ignorieren, die ihre Agenten in unsere Mitte einschleust und nach Leuten sucht, die bereit sind, die Interessen der Heimat zu verraten und auf die Unterminierung der Sowjetgesellschaft gerichtete Aufträge der Imperialisten zu übernehmen.” (S. 330f.) … “Wir neigen häufig dazu, zu vergessen, dass die Feinde, geschickt als Kommunisten getarnt, stets versuchten und auch weiterhin versuchen werden, sich zum Zwecke der Verwirklichung ihrer feindlichen Absichten, aus Karrieregründen sowie zum Zwecke der Wühlarbeit im Auftrage imperialistischer Mächte und ihrer Geheimdienste in die Reihen unserer Partei einzuschleichen.” (S. 332f.)

In diesem Zusammenhang wird über Berija gesagt, er sei “vom ZK-Präsidium als Agent des in-ternationalen Imperialismus” entlarvt worden.

Aber das Plenum stellte nicht nur als Fakt fest, dass es den Imperialisten gelungen ist, einen Agenten ins Machtzentrum der Sowjetunion einzuschleusen, es stellte mit der Aufzählung dessen, was Berija vorgeworfen wurde, zugleich einen Katalog von Kriterien auf, woran man einen im-perialistischen Agenten erkennen kann. Dieser Katalog verdient unsere Aufmerksamkeit:

1. “Berija versuchte durch hinterlistiges Intrigenspiel den leninschen-stalinschen Führungskern unserer Partei zu entzweien und zu spalten, die Führer von Partei und Staat zu diskreditieren, um seine eigene ‚Autorität’ zu erhöhen und seine verbrecherischen antisowjetischen Pläne zu ver-wirklichen.” (S. 333)

2. “Unter gröbster Missachtung des Parteistatuts über die Auswahl von Kadern nach ihrer politi-schen und fachlichen Eignung protegierte Berija Mitarbeiter des Innenministeriums, die ihm per-sönlich ergeben waren, wobei er der Partei fremde sowie zwielichtige Personen bevorzugte.” (S. 334f.)

3. “Es steht nunmehr außer Zweifel, dass dieser heimtückische Volksfeind beabsichtigte, die Kolchosen zu unterminieren und Schwierigkeiten bei der Lebensmittelversorgung des Landes hervorzurufen.” (S. 335)

4. “Berija wollte durch verschiedene heimtückische Manöver die Freundschaft der Völker der UdSSR … untergraben. Unter dem fadenscheinigen Vorwand, gegen Verzerrungen in der Nationalitätenpolitik der Partei anzukämpfen, versuchte er, Zwist zwischen den Völkern der UdSSR zu säen und die bürgerlich-nationalistischen Elemente in den Unionsrepubliken zu akti-vieren.” (S. 335)

5. “Das feindliche politische Wesen Berijas ist in besonders anschaulicher Weise bei der Erörterung der deutschen Frage … zutage getreten. Die Vorschläge Berijas liefen darauf hinaus, den Weg des Aufbaus des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik zu verlassen und Kurs zu nehmen auf die Umwandlung der DDR in einen bürgerlichen Staat, was einer direkten Kapitulation vor den imperialistischen Kräften gleichgekommen wäre.” (S. 335)

6. “In den allerletzten Tagen sind die verbrecherischen Pläne Berijas aufgedeckt worden, über sein Agentennetz persönlichen Kontakt zu Tito und Rankovic in Jugoslawien aufzunehmen.” (S. 336)

7. “Nachdem er den Posten des Innenministers der UdSSR an sich gerissen hatte, … begann er, das Innenministerium über Partei und Regierung zu stellen …”

Fassen wir einmal zusammen, woran ein imperialistischer Agent in der Führung der KPdSU sich auffällig macht:

1. Er versucht die Partei zu spalten und alle anderen führenden Personen zu diskreditieren und auszuschalten.

2. Er setzt zwielichtige, ihm ergebene Leute in Schlüsselpositionen.

3. Er versucht, die Landwirtschaft zu desorganisieren, um die Lebensmittelversorgung zu sabo-tieren.

4. Er entfacht nationalistischen Hader zwischen den Völkern der Sowjetunion.

5. Er will die DDR an die BRD ausliefern.

6. Er will die Beziehungen zu Tito-Jugoslawien normalisieren (s. a. S. 33f.).

7. Er will die Partei den staatlichen Organen unterstellen, d. h., entmachten.

Es springt sofort in die Augen, dass alle diese Punkte eine frappierende Beschreibung der Gor-batschow-Politik darstellen, und das keineswegs zufällig. Nur – er, Gorbatschow, hat diese Politik nicht eingeleitet.

Eingeleitet und lange Jahre praktiziert wurde sie auch nicht von Berija, der wurde – spätestens – im Dezember 1953 erschossen. Durchgeführt wurde dieses Programm von keinem anderen, als dem, der die Entlarvung Berijas als imperialistischem Agenten als erster und am eifrigsten betrieb – von N. S. Chrustschow.

Er zerstörte die Einheit der KPdSU, er räumte durch eine Kette von Intrigen alle Mitglieder der “kollektiven Führung” von 1953 – Malenkow, Molotow, Kaganowitsch, Bulganin, aus dem Wege, bis er eine Machtfülle in seiner Hand vereinte, nicht geringer als die Stalins, er spaltete die kom-munistische Bewegung und die Gemeinschaft der sozialistischen Staaten. Er “säuberte” die Füh-rungspositionen im Partei- und Staatsapparat von Leuten, die ihm zu widersprechen wagten und vergab die einflussreichsten Posten an Lobhudler und Speichellecker vom Schlage seines Schwiegersohnes Adshubej, dem er die Leitung der “Iswestija” übergab. Er desorganisierte die Wirtschaft, insbesondere die Landwirtschaft, indem er unter der Überschrift “endgültige Lösung des Getreideproblems in der Sowjetunion” abenteuerlichste und katastrophale Maßnahmen durchpeitschte, wie die Neulandaktion, die Maiskampagne, die Offenstall-Kampagne, die Kam-pagne zum Bau von “Agro-Städten”, und anderes mehr, mit dem Ergebnis, dass von Jahr zu Jahr mehr Getreide aus den USA und Kanada eingeführt werden mussten, um das wachsende Getrei-dedefizit auszugleichen.

Er legte den Grund für die Nationalitätenkonflikte, die aber durch seinen Sturz nicht die Ausmaße annehmen konnten, wie später unter Gorbatschow, – indem er die frühere Nationalitätenpolitik für falsch erklärte und insbesondere die von ihm mitbeschlossenen kriegsbedingten Evakuierungs-maßnahmen gegenüber den Wolgadeutschen, den Krimtataren, den Inguschen und Tschetschenen als “Stalinsche Verbrechen” deklarierte. Er unternahm mehrere Versuche, Walter Ulbricht als das Haupthindernis eines Deals mit dem BRD-Imperialismus, mit Hilfe von Mitgliedern der SED-Führung, die Ulbricht nicht grün waren, abzuservieren (was Schirdewan dazu benutzt, aus der schmählichen Intrige, an der er mitgewirkt hat, eine leuchtende Widerstandsaktion zu basteln).

Und schließlich war er, Chrustschow es, der hartnäckig dafür sorgte, dass das Trojanische Pferd des Tito-Revisionismus wieder in die Festung hereingebracht und der Revisionismus in die Pro-grammatik der kommunistischen Weltbewegung eingeschleust wurde.

Was aber das Entscheidende ist: Für all dies gab es keinerlei äußeren “Zwang”, nichts von alledem lässt sich auch nur erklären – geschweige denn rechtfertigen – mit einer “atomaren Erpressung” der KPdSU-Führung. Zu erklären ist es einzig und allein damit, dass die Führung der KPdSU zum Teil in die Hände von Revisionisten gefallen ist.

Die unvermeidliche Folge dessen war der Beginn eines scharfen, erbitterten innerparteilichen Kampfes zwischen den leninistischen Kräften und den revisionistischen Usurpatoren, der indessen weitgehend verdeckt ablief und nur an gewissen Höhepunkten auch nach außen hin unübersehbar wurde: im Juni-Plenum 1957, auf dem 22. Parteitag und beim Sturz Chrustschows im Oktober 1964.

Dieser Kampf zwischen Leninismus und Revisionismus blieb aber nicht auf die KPdSU beschränkt, sondern erfasste die ganze kommunistische Weltbewegung.

Diese unübersehbaren Symptome einer gefährlichen Erkrankung des Organismus der KPdSU und der ganzen kommunistischen Bewegung werden von Dir nicht als solche bewertet; man findet nur einen einzigen schwachen Hinweis auf sie in Deiner Bemerkung (S. 167): “Bekanntlich hat sich der Chrustschow-Kurs in der KPdSU nicht kampflos durchgesetzt.”

Damit ich nicht falsch ausgelegt werde: ich vermisse nicht, dass du in Deiner Arbeit alle Tatsachen, an die ich erinnere, nicht selbst aufgeführt hast. Ich bin aber überrascht davon und verstehe nicht, wieso Du Thesen vertrittst, die mit diesen Tatsachen, die Dir ja nicht unbekannt sind, unvereinbar sind, dass Du also an Deiner Vorstellung von der Wirklichkeit selbst dann festhältst, wenn Dir ihr Widerspruch zur wirklichen Wirklichkeit bewusst geworden sein muss.

Das krasseste Beispiel dafür sehe ich in Deiner Behauptung, Chrustschows opportunistischer “Kompromißkurs hatte geleistet, was er hatte leisten sollen: der russische und osteuropäische Sozialismus hatte eine extrem ungünstige und gefährliche Periode überlebt”. (S. 167)

Die Fehlerhaftigkeit dieses Satzes geht bis in die Wortwahl: “russischer” statt “sowjetischer” Sozialismus. Vor allem aber: was hat Chrustschows Revisionismuskurs wirklich “geleistet”? Als Chrustschow im Oktober 1964 endlich gestürzt wurde, hinterließ er einen Scherbenhaufen im Innern und nach außen: wirtschaftlich, politisch, ideologisch und organisatorisch.

Und worin soll die “extrem ungünstige und gefährliche Periode” bestanden haben? Wieso war diese Periode ungünstiger und gefährlicher als die von 1945 bis 1953?

Du musst doch wissen, dass die imperialistische Strategie in diesen Jahren darauf hinauslief, Chrustschow gegen seine innenpolitischen Gegner an der Macht zu halten, sein Überleben zu garantieren, weil sie sich davon auf die Dauer einen Erfolg ihrer Unterminierungsarbeit zum Sturz des Sowjetsystems versprachen! (Wieso hat Dich das Dulles-Zitat von 1956 zum Entstalinisie-rungskurs Chrustschows nicht daran gehindert, Chrustschow als den Überlebensretter der SU hinzustellen?)

Und schließlich und vielleicht am wichtigsten: Wieso verbietet Dir nicht Deine Grundkenntnis, dass der Opportunismus nicht das Überleben sichert, sondern in den Sumpf und in den Untergang führt, zu glauben und anderen zu versichern, die opportunistische Chrustschow- Politik habe das Verdienst, dem Sozialismus das Überleben zu ermöglichen? Wenn Du das für möglich hältst, was hast Du dann eigentlich gegen den Gysi-Bisky-Kurs noch für Argumente?

Es war mir nur ein schwacher Trost, dass Du spüren lässt, es ist Dir selbst nicht ganz wohl in Deiner Haut mit dieser faktischen Ehrenrettung des Opportunismus, daher solche Relativierungen, wie: “erklären heißt nicht: rechtfertigen” (S. 167) und: “Vielleicht (vielleicht!) war unter den Kräfteverhältnissen der fünfziger Jahre eine grundsätzlich andere sozialistische Politik tatsächlich nicht möglich.” (S. 170) Aber gesagt ist gesagt: “Der Chrustschow-Kurs wird durch die Zwangs-lage nuklearer Unterlegenheit erklärt.” (S. 167) Was Deiner Ansicht nach aber noch der Erklärung bedarf, ist die Frage: “Was aber erklärt das Eingehen der sozialistischen Welt auf die indirekte Strategie?” (Auch hier fällt aber die sprachliche Ungenauigkeit auf: es war ja keineswegs “die sozialistische Welt”, von der hier zu reden ist.)

Die Erklärung, die Du dafür gibst, baut ausführlich auf der Erklärung auf, mit der Du den Chrustschow-Kurs erklärst, also auf einer brüchigen, mit den Tatsachen im Widerspruch stehenden These. Wie gar nicht anders möglich, können dabei ebenfalls nur Vermutungen, subjektive An-sichten, nicht aber auf Tatsachen gestützte Erklärungen vorgebracht werden. So heißt es dann in Deinen Erklärungsversuchen folgerichtig: “Anscheinend ging die sowjetische Führung davon aus …” (S. 168) “Offenbar ging die sowjetische Führung davon aus …” (S. 169) Diese Vermutungen werden aber als Gewissheiten behandelt: “Diese Annahme (der sowjetischen Führung) übersah jedoch …” (Du sagst nicht: “Wenn meine Vermutung zutreffen sollte, dann …”, sondern Du ar-gumentierst, als sei erwiesen, dass dies und nichts anderes die sowjetischen Annahmen gewesen seien.) Natürlich ist alles richtig, was Du kritisch zur Akzeptanz von Entideologisierung sagst. Aber Deine Argumente haben den Nachteil, dass sie gegen einen von Dir aufgebauten Pappkameraden gerichtet werden, die tatsächliche Wurzel des Übels aber unaufgedeckt bleibt.

Liebe Sahra, ich muss mich natürlich dafür entschuldigen, dass ich Deine Zeit und Geduld so extensiv beanspruche. Aber ich nehme an – da Du meine Meinung zu Deinem ursprünglichen Manuskript kennenlernen wolltest, dass Dir auch daran gelegen ist, zu wissen, was ich zur End-fassung meine. Ich habe mich allerdings darauf beschränkt, zum Nachtrag Stellung zu nehmen, ich hätte mich sonst in Anerkennung und Kritik wiederholt. Wenn ich so deutlich und ohne jede dip-lomatische Abschwächung formuliert habe, dann deshalb, weil mir scheint, Du hast im Lande und darüber hinaus in der Arbeiterbewegung über die Landesgrenzen hinaus eine Stellung erlangt, die Dich verpflichtet, keine Einschätzungen zu geben, die Du nicht auf ihre Stichhaltigkeit geprüft hast. Diese Verpflichtung belastet Deine Schultern erheblich früher, als das gewöhnlich geschieht, nämlich in einem Stadium, in dem man normalerweise auch im Handwerklichen der wissen-schaftlichen Arbeit noch nicht ausgelernt hat. Da kann es nur nützlich sein – auch wenn man’s nicht gerne hört – darauf gestoßen zu werden, wo die Sache wegen Unfertigkeiten noch an Mängeln leidet. So jedenfalls sind diese Seiten gemeint.

Herzliche Grüße

Veröffentlicht in “Streitbarer Materialismus” Nr. 21 (Februar 1997), S. 71-103.

Anmerkung:

(1) Antisozialistische Strategien im Zeitalter der Systemauseinandersetzung. Zwei Taktiken im Kampf gegen die sozialistische Welt. Hamburg 1995, Konkret Autorenbibliothek, 200 Seiten, DM 19,80.