Rückblick auf den Rückschlag: Hatte der Sozialismus nach 1945 keine Chance? (Januar 1991)

Kurt Gossweiler

RÜCKBLICK AUF DEN RÜCKSCHLAG:
HATTE DER SOZIALISMUS NACH 1945 KEINE CHANCE?

Die Fragestellung der Überschrift mag befremden: wieso nur nach 1945? Wieso nicht die Frage: Hatte der Sozialismus nach dem Sieg der Oktoberrevolution eine Chance? Gibt es doch heute nicht wenige Stimmen auf der Linken, die nachträglich Kautskys Diktum von 1918 zustimmen, der Sozialismus habe in einem so rückständigen Lande wie Russland keine Chance, und die folglich im Untergang des Sozialismus in unseren Tagen die Erfüllung des Kautsky’schen Diktums sehen.

Indessen kann keine vorurteilsfreie Betrachtung der Geschichte des Sozialismus zwischen 1917 und 1990 an der Tatsache vorbeigehen, dass das 1917 in Russland begonnene ‘Experiment’ bis 1945 trotz massiver Einwirkungen einer feindlichen Umwelt und trotz der Stalin’schen Rep-ressionspolitik eine Lebenskraft, Behauptungs- und Modernisierungsfähigkeit entfaltet hat, die es fertig brachten, für unmöglich Gehaltenes Wirklichkeit werden zu lassen: aus einem 1917-1920 durch Krieg und Bürgerkrieg verwüsteten und zerrütteten Land ein Land zu ma-chen, das als einziges auf dem europäischen Kontinent die wirtschaftliche, militärische und moralische Kraft aufbrachte, dem Überfall der zweitstärksten Industriemacht des Kapitalismus und der stärksten und bestgerüsteten kapitalistischen Armee nicht nur standzuhalten, sondern sie – und zwar im wesentlichen aus eigener Kraft – zu zerschmettern.

Ich kenne aus der Geschichte kein Beispiel, dass ein Staat und ein Gesellschaftssystem einer härteren Prüfung unterworfen gewesen wäre und sie so überzeugend bestanden hätte. Als daher das Fazit dieser Prüfung mit den Worten gezogen wurde, der Sieg bedeute, dass die sowjetische Gesellschafts- und sowjetische Staatsordnung gesiegt und ihre Lebensfähigkeit bewiesen habe, da konnten dieser Feststellung einer vor aller Augen liegenden Tatsache auch nicht die erbit-tertsten Feinde der Sowjetunion widersprechen. Was immer an der Sowjetgesellschaft in dieser Zeit auszusetzen und korrekturbedürftig war – es hat diese Gesellschaft nicht daran gehindert, unermessliche Kräfte zu entfalten und Leistungen zu vollbringen, wie sie bisher kein Land der bürgerlichen Gesellschaft zu vollbringen vermocht hatte.

Daraus folgt für mich die Notwendigkeit zu fragen, ob nicht nach 1945 neue Momente auf-traten, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen, wenn wir nach den Ursachen des Scheiterns des ‘sozialistischen Experimentes’ fragen.

Ich möchte im folgenden drei solcher Momente benennen, die mir ganz wesentlich zu sein scheinen, die sich zusammenfassen lassen als falsche Weichenstellungen in Grundfragen des Aufbaus des Sozialismus, als Abgehen von Grundsätzen, deren Befolgung nach marxistischem Verständnis lebensnotwendig für eine Gesellschaft ist, die den Sozialismus errichten will, nämlich

1. Die Preisgabe des Internationalismus im Verhältnis der kommunistischen Parteien und der sozialistischen Länder zueinander;

2. die Preisgabe der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft als einer neuen, dem Kapita-lismus entgegen gesetzten Gesellschaft mit eigenen Zielen und Wegen und

3. die Preisgabe einer wissenschaftlich fundierten Wirtschaftspolitik.

1. Zur Preisgabe des Internationalismus

Der Internationalismus ist das Lebensprinzip des wissenschaftlichen Sozialismus. Die Losung: ‘Proletarier aller Länder, vereinigt euch!’ muss die Handlungsmaxime aller Sozialisten, aller sozialistischen Parteien und aller sozialistischen Länder im Verhältnis zueinander sein.

Das bedeutet für alle marxistischen Parteien, dass sie eine Gemeinschaft bilden, in der jedes einzelne Glied dem Ganzen gegenüber verantwortlich ist, gleichgültig, ob dies auch noch einen organisatorischen Ausdruck findet im Zusammenschluss zu einer Internationale oder einem anderen internationalen Koordinierungsorgan oder nicht. Sie alle müssen ständig um die Übereinstimmung in den Grundfragen der internationalen Politik, in der Beurteilung der Weltsituation und der daraus notwendigen Strategie und Taktik der gesamten Bewegung und jeder einzelnen Partei ringen. (…)

Für die sozialistischen Länder bedeutet die Marx’sche Losung des Zusammenschlusses der Proletarier aller Länder, dass sie alle eine Staatengemeinschaft bilden müssen, die allmählich und stetig immer mehr zu einem einheitlichen politischen und wirtschaftlichen Organismus zusammenwächst.

Um diesen Prozess zu lenken und zu fördern, wurde 1949 der Rat für gegenseitige Wirt-schaftshilfe (RGW) gegründet. Auf vielen Ratstagungen wurden von verschiedenen Mitglie-dern Vorstöße unternommen, den RGW in diesem Sinne weiterzuentwickeln. So hieß es zum Beispiel in einem Memorandum der DDR-Delegation für eine Ratstagung 1956 (1) : “Wir erwarten, dass diese Beratung zu einem Beschluss führt, der eine enge systematische Zusam-menarbeit der Sowjetunion und der Länder der Volksdemokratie sichert: (Es) ist notwendig, den gegenwärtigen Rat zu einem Organ zu entwickeln, das in engstem Zusammenhang mit dem Gos-Plan der UdSSR die großen Aufgaben der Volkswirtschaft in den volksdemokratischen Ländern richtungweisend lenkt.”

Das war umso notwendiger, als die in der EWG vereinten Länder unter dem Druck der stärksten Führungsmächte BRD und Frankreich verstärkte Bemühungen unternahmen, ein einheitliches Wirtschaftsgebiet von der Elbe bis zum Atlantik und von der Ostsee bis zum Mittelmeer zu schaffen.

Während die kapitalistischen Staaten Westeuropas immer näher aneinanderrückten und nun sogar die Schaffung eines einheitlichen Marktes in greifbare Nähe gerückt ist, fand innerhalb des RGW an Stelle von Integration – so viel darüber geredet und geschrieben wurde – in Wirklichkeit eine je länger desto rascher vor sich gehende Desintegration statt.

Die Ursachen für eine solche Entwicklung im ökonomischen Bereich zu suchen, führt meines Erachtens in die Irre, denn es ist komplizierter und schwieriger, die aus dem kapitalistischen Eigentum hervorgehenden Konkurrenzgegensätze zu überwinden, als auf der Grundlage gleichgearteten gesellschaftlichen Eigentums zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu gelangen, noch dazu bei gleicher politischer Zielsetzung – sofern diese wirklich vorhanden.

Die Desintegration sozialistischer Staaten widerspricht deren ökonomischer Natur und kann nur die Folge politischer Fehlentscheidungen sein. Eine solche gravierende Fehlentscheidung fand in der Mitte des Jahres 1955 statt. Mit ihr wurde der Internationalismus als Grundprinzip der Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien und den sozialistischen Ländern verabschiedet und durch die Prinzipien des so genannten “Nationalkommunismus” ersetzt. Als Chrustschow im Sommer 1955 nach Belgrad zur Aussöhnung mit Tito und dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens fuhr, wurde von beiden ein Dokument, das als ‘Belgrader Dekla-ration’ vom 2. Juni 1955 bekannt wurde, unterzeichnet, in dem es heißt:

“Fragen der inneren Einrichtung und … des Unterschiedes in den konkreten Formen der Ent-wicklung sind ausschließlich Sache der einzelnen Länder.” (2)

Das bedeutet die Absage an das Prinzip, das bislang für die Parteien gültig war, die dem In-formationsbüro der kommunistischen und Arbeiterparteien angehörten, und das besagte: “dass jede Partei vor dem Informationsbüro rechenschaftspflichtig ist, genau so, wie jede Partei das Recht der Kritik an den anderen Parteien besitzt.” (3)

Eine solche Kritik wurde jetzt zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten erklärt, die gegen das Prinzip der Nichteinmischung verstoße, ein Prinzip, das in der Belgrader Deklaration ausdrücklich festgeschrieben wurde.(…)

Das bedeutete einen radikalen Bruch mit dem Marxismus-Leninismus, denn für Marx galt, dass alles, was eine Partei der Internationale betraf, auch alle anderen Parteien anging, und de-mentsprechend galt für Lenin das Prinzip, dass alles, was in der Sowjetunion geschah, die Arbeiterklasse aller Länder, der ganzen Welt anging und die regierende kommunistische Partei rechenschaftspflichtig ist vor den Arbeitern aller Länder. Für Marx und Engels war der Inter-nationalismus die Lebensader der sozialistischen Bewegung, ein Abgehen von ihm gleichbe-deutend mit der Durchschneidung dieser Lebensader.

Das gilt erst recht, nachdem eine Gemeinschaft sozialistischer Länder entstanden ist, die einem ökonomisch weit überlegenen imperialistischen Lager gegenübersteht, dessen Ziel in der Austilgung des Sozialismus von dieser Erde besteht.

Einem solchen Gegner konnten die sozialistischen Länder auf Dauer nur dann erfolgreich widerstehen, wenn sie noch besser und effektiver als er das Zusammenwachsen ihrer nationalen Volkswirtschaften zu einem sich immer mehr vereinheitlichenden Wirtschaftsorganismus gestalteten. Das war aber ganz unmöglich bei Aufrechterhaltung eines solchen Prinzips der nationalen Borniertheit, wie es in der Belgrader Deklaration festgeschrieben wurde. Da dieses Prinzip in den folgenden Jahren nicht widerrufen wurde, (…) war die Desintegration und der schließliche Verfall des RGW nur eine Frage der Zeit. (Im Grunde war der RGW in seiner Wirksamkeit schon stark beeinträchtigt, als Anfang 1958 das RGW-Mitglied Polen entgegen dem bislang für alle sozialistischen Staaten gültigen Prinzip, den kapitalistischen Staaten keine Möglichkeit zu geben, über die Währung Einflussmöglichkeit auf oder gar Kontrolle über die Wirtschaft sozialistischer Länder zu erlangen, mit den USA ein Handelsabkommen schloss, das vorsah, die Importe aus den USA mit der polnischen Landeswährung zu bezahlen.) (4)

Den Grundsatz, dass kein sozialistisches Land das Recht habe, sich in die Angelegenheiten eines anderen sozialistischen Landes ‘einzumischen’, beanspruchte Jugoslawien nicht nur für die Innen-, sondern auch für die Außenpolitik: es bezeichnete sich zwar als ‘blockfrei’, bildete aber gemeinsam mit den NATO-Staaten Türkei und Griechenland am 28. Februar 1953 den so genannten Balkanpakt, der auch militärische Zusammenarbeit vorsah.(…) So war also das ‘paktfreie’ Jugoslawien mehrfach in die imperialistischen Bündnissysteme integriert und da-durch würdig geworden, von den USA mit Waffen beliefert zu werden.(…)

2. Zum Verzicht auf die Gestaltung einer eigenständigen sozialistischen Gesellschaft

Ein Vorwurf, den die DDR-Sozialisten schon lange vor der so genannten Wende von Freunden des ‘Sozialistischen Experimentes’ aus West und Ost häufig zu hören bekamen, lautete etwa so: ‘Ihr habt mal so gut angefangen, als ihr im Osten eine Gesellschaft aufbauen wolltet, die eine wirkliche Alternative zur kapitalistischen Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft darstellt. Inzwischen aber habt ihr das ja wohl aufgegeben, denn wohin wir auch sehen – ob auf die Zielsetzungen eurer Führung oder auf das persönliche Streben der Mehrzahl eurer Menschen – wir stoßen überall darauf, dass als Maßstab für zu erreichende Erfolge die westlichen Standards gelten, vom Konsum bis zur Kultur, vom Auto bis zur Disko.’

Mag eine solche Feststellung in derartiger Absolutheit übertrieben und auch etwas ungerecht gewesen sein – im Kern traf sie doch den bedrückenden Tatbestand, dass die Meßlatte für die Höhe, die wir erreichen wollten, vom Westen aufgelegt war.

Wie war es dazu gekommen? Eine entscheidende Rolle spielte, dass die revolutionären Um-wälzungen, durch die in der DDR die Ausbeutung beseitigt und soziale Gerechtigkeit und Existenzsicherheit für jedermann hergestellt werden sollten – Bodenreform und Bildung von Produktionsgenossenschaften in Landwirtschaft und Handwerk und Kleinindustrie, Enteig-nung des großen Kapitals und Überführung der Banken, der Industrie, von Handel und Ver-sorgung in Volkseigentum -, ihre Überzeugungskraft als Argumente für den Sozialismus in dem Maße einbüßten, wie der Lebensstandard im kapitalistischen Westeuropa sich über den in den sozialistischen Ländern erhob. Denn von jeher war im Bewusstsein der Sozialisten der Kampf um den Sozialismus gleichbedeutend mit jenem Ziel, das die Arbeiterhymne mit den Worten ausdrückt: ‘Uns aus dem Elend zu erlösen’, also nicht nur ein menschenwürdiges, sondern auch ein materiell besseres Leben als im Kapitalismus zu erkämpfen. Aber niemals haben wirkliche Marxisten diese Aufgabe so betrachtet, als könne und dürfe sie in einem einzigen Lande oder in mehreren Ländern isoliert von der revolutionären Bewegung der übrigen Welt in Angriff genommen werden. Auf dem Dritten Gesamtrussischen Sowjetkongress führte Lenin in seinem Referat (11.1.1918) aus, Marx und Engels hätten klar gesehen, “dass der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus lange Geburtswehen, eine lange Periode der Diktatur des Proletariats, das Zerschlagen alles Alten, die erbarmungslose Vernichtung aller Formen des Kapitalismus, das Zusammenwirken der Arbeiter aller Länder erfordert”.(5) Die sich daraus für die Sowjetmacht (und somit für alle sozialistischen Staaten) ergebenden Pflichten goss er in einer Resolution im März 1918 in die programmatische Aufgabenstellung, alles in den eigenen Kräften Stehende zu tun, “um die internationale sozialistische Bewegung zu unterstützen, den Vormarsch zu sichern und zu beschleunigen, der die Menschheit zur Befreiung vom Joch des Kapitals und von der Lohnsklaverei, zur Schaffung der sozialistischen Gesellschaft und eines dauerhaften, gerechten Friedens unter den Völkern führt.” (6)

Die Aufgabe jeden sozialistischen Staates und erst recht einer sozialistischen Staatengemein-schaft hat demnach zwei Seiten – eine innere und eine äußere: die innere (Hebung des Le-bensstandards der Bevölkerung) jedoch nur in dem Maße, dass die äußere Aufgabe (die Er-füllung der internationalistischen Verpflichtungen) dadurch nicht unmöglich gemacht wird. Diese zweiseitige Aufgabe ist nicht nur von Bedeutung für die Wirtschaftspolitik; sie hat auch Konsequenzen für alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens und darüber hinaus bis in die ‘private’ Sphäre jeden einzelnen Bürgers hinein; denn sie verlangt die konsequente Erziehung aller Staatsbürger zu einer moralischen Haltung, die sich grundsätzlich von der Haltung solcher Menschen unterscheidet, die ‘erfolgreich’ die Schule des ‘western way of life’ absolviert haben, in der die Devise gilt: Jeder ist sich selbst der Nächste! Wer keinen Erfolg hat, ist selber schuld! Benutzt eure Ellenbogen dafür, wofür sie da sind!

Die Lösung der zweiseitigen Aufgabe sozialistischer Staaten verlangt Menschen, denen die Arbeit für die äußere Aufgabe – die Unterstützung der revolutionären Bewegung außerhalb der Landesgrenzen – genau so wichtig, wenn nicht noch wichtiger ist als die rasche Mehrung des eigenen Wohlstandes; Menschen, deren Motivation für den Stolz auf das eigene Land nicht in dessen Größe, Macht und Reichtum liegt, sondern darin, dass dieses Land – ob groß oder klein, reich oder arm – in der Reihe der Länder steht, die für soziale Gerechtigkeit für die ganze Menschheit, nicht nur innerhalb der eigenen Landesgrenzen, kämpfen; Menschen also, durchdrungen vom Geiste internationaler Solidarität und der Opferbereitschaft für alle, die ihrer bedürfen. Eine solche Entwicklung entwickelt sich natürlich nicht automatisch nur dadurch, dass kapitalistisches Eigentum in gesellschaftliches verwandelt wird. Sie kann entstehen, wachsen und zu einer gesellschaftlich vorherrschenden Haltung nur werden, wenn zur Überzeugung von ihrer Notwendigkeit ihre alltägliche Verwirklichung durch die Führung der Gesellschaft tritt, wenn sie also zur alltäglich erlebbaren Praxis wird.

Eine Erziehung zu eben dieser Haltung war in der Sowjetunion und in den meisten der euro-päischen sozialistischen Länder bis etwa Ende der fünfziger Jahre vorherrschend. Die Abkehr von ihr vollzog sich allmählich. Sie erreichte aber 1959 auf dem XXI. Parteitag der KPdSU einen Punkt, von dem ab, wie mir scheint, die zweiseitige Aufgabe nur noch verbal als zweiseitig anerkannt, in Wirklichkeit aber die eine, die innere Aufgabe der Wohlstandssteigerung, zur eigentlichen und wesentlichen erklärt wurde, der alles andere unterzuordnen sei. Die Zielsetzungen für den Wirtschaftsplan wurden nicht mehr davon abgeleitet, das Land nach Maßgabe seiner Möglichkeiten und der Komplexität seiner inneren und äußeren Aufgaben organisatorisch so zu entwickeln und zu stärken, dass alle diese Aufgaben berücksichtigt wurden, sondern es wurde ein einziger Orientierungspunkt anvisiert: Erreichen und Über-schreiten des Lebensstandards der entwickelten kapitalistischen Länder in kürzester Frist. Und begründet wurde diese einseitige Orientierung mit der Behauptung, nur auf diesem Wege könne der Sozialismus seine Überlegenheit über den Kapitalismus unter Beweis stellen und die Arbeiter der entwickelten kapitalistischen Länder veranlassen, sich für den Sozialismus zu entscheiden.

In Chrustschows Referat auf dem XXI. Parteitag wurde diese Linie so begründet:

“Der Sozialismus hat seine völlige Überlegenheit über den Kapitalismus, was das Entwick-lungstempo der Produktion anbelangt, voll und ganz bewiesen. Jetzt treten wir in eine neue Etappe des wirtschaftlichen Wettbewerbs mit dem Kapitalismus ein.

Gegenwärtig besteht die Aufgabe darin, ein Übergewicht des sozialistischen Systems über das kapitalistische System in der Weltproduktion zu erreichen, die entwickeltsten kapitalistischen Länder in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, in der Produktion pro Kopf der Be-völkerung zu übertreffen und den höchsten Lebensstandard der Welt zu sichern.

In dieser Etappe des Wettbewerbs beabsichtigt die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten von Amerika in wirtschaftlicher Hinsicht zu überholen. Der Produktionsstand in den USA ist der Gipfel, bis zu dem sich die Wirtschaft des Kapitalismus aufschwingen konnte… Den Stand der USA zu übertreffen bedeutet, die höchsten Kennziffern des Kapitalismus zu übertreffen.

Der Umstand, dass wir jetzt eine solche Aufgabe stellen, zeigt, wie sehr unsere Kräfte, unsere Möglichkeiten gewachsen sind…

Je Kopf der Bevölkerung gerechnet, werden … nach Erfüllung des Siebenjahresplanes noch fünf Jahre notwendig sein, um die Vereinigten Staaten in der Industrieproduktion einzuholen und zu überflügeln. Daraus folgt, dass zu diesem Zeitpunkt, möglicherweise aber auch früher, die Sowjetunion sowohl dem absoluten Produktionsumfang nach als auch in der Pro-Kopf-Quote auf den ersten Platz in der Welt rücken wird. Dies wird ein welthistorischer Sieg des Sozialismus im friedlichen Wettbewerb mit dem Kapitalismus im internationalen Maßstab sein.” (7)

Auf dem XXII. Parteitag der KPdSU (Oktober 1961) wurde diese Aufgabenstellung in das auf dem Parteitag verabschiedete Parteiprogramm übernommen. Die entsprechende Passage lautet:

“Die Aufgaben des kommunistischen Aufbaus werden in aufeinander folgenden Etappen gelöst werden.

Im nächsten Jahrzehnt (1961-1970) wird die Sowjetunion beim Aufbau der materi-ell-technischen Basis des Kommunismus die USA – das mächtigste und reichste Land des Kapitalismus – in der Pro-Kopf-Produktion überflügeln; der Wohlstand, das Kulturniveau und das technische Entwicklungsniveau werden bedeutend steigen; alle Kolchosen und Sowchosen werden sich in hochproduktive Betriebe mit hohen Einkünften verwandeln: der Bedarf der Sowjetbürger an komfortablen Wohnungen wird im wesentlichen gedeckt werden; die schwere körperliche Arbeit wird verschwinden; die UdSSR wird zum Land mit dem kürzesten Ar-beitstag.

Als Ergebnis des zweiten Jahrzehnts (1971-1980) wird die materiell-technische Basis des Kommunismus errichtet, die einen Überfluss an materiellen und kulturellen Gütern für die gesamte Bevölkerung sichert; die Sowjetgesellschaft wird soweit sein, das Prinzip der Vertei-lung nach den Bedürfnissen zu verwirklichen, es wird sich der allmähliche Übergang zum einheitlichen Volkseigentum vollziehen. Somit wird in der UdSSR die kommunistische Ge-sellschaft im wesentlichen aufgebaut sein. Vollendet wird der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft in der nachfolgenden Periode. … Dann wird die UdSSR über beispiellose mächtige Produktivkräfte verfügen, die höchstentwickelten Länder technisch überflügeln und in bezug auf die Pro-Kopf-Produktion an die erste Stelle in der Welt vorrücken.” (8)

Über die Realitätsferne dieser Zielstellung wird noch zu reden sein. Hier, in diesem Abschnitt, geht es aber nicht um Ziffern und Fristen, sondern um die Grundorientierung, die hier deutlich wurde: Zum entscheidenden Prüfstein für die Bejahung des Sozialismus, für dessen Überle-genheit wird nur noch die höhere Pro-Kopf-Produktion im Vergleich zum höchstentwickelten kapitalistischen Land gemacht. Allein davon, ob es ihm gelänge, den Kapitalismus darin zu überholen, hänge – so wird indirekt gesagt – der Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus ab. Die Frage der moralischen Überlegenheit und der revolutionären Wirkung des Kampfes für eine sozial gerechte Ordnung verschwindet aus dem Blickfeld. Der Wettbewerb mit dem Ka-pitalismus wird einseitig und ausschließlich verlagert auf das Feld, auf dem der Sozialismus für längere Zeit noch schwächer und weniger leistungsfähig sein musste als der Kapitalismus (schon allein deshalb, weil er mit diesem nicht in ‘Wettbewerb’ treten konnte bei der Ausplünderung der Dritte-Welt-Länder; allgemein gesprochen, weil noch für eine längere Zeit seine Akkumulationsquellen viel dünner fließen, sein Investitionsbedarf aber viel größer sein würde als auf Seiten der entwickelten kapitalistischen Länder): auf dem Gebiet des Massenkonsums.

Auch in seiner Ansprache auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 gab Chrustschow diese Orientierung, als er sagte:

“Der Fritz, der in der Deutschen Demokratischen Republik arbeitet, bekommt soviel. Und der Hans, der im Westen arbeitet, bekommt soviel. Auf diese Weise stellt er fest, wo es besser und wo es schlechter ist.” (9)

Analog zu der Zielstellung der UdSSR, die USA in der Pro-Kopf-Produktion in kürzester Zeit einzuholen und zu überholen, wurde folglich für die DDR die Aufgabe gestellt, Westdeutsch-land auf diesem Gebiet zu erreichen und zu übertreffen. Ähnliche Zielstellungen wurden seitens der sowjetischen Führung allen RGW-Ländern empfohlen und von ihnen bekanntlich auch übernommen.

Diese Umorientierung bewirkte – was kaum bemerkt wurde, weil sie nicht proklamiert wurde – eine schleichende Umwertung der Werte: Die Solidarität mit dem kämpfenden Proletariat in der kapitalistischen Welt und mit den nationalen und kolonialen Befreiungsbewegungen traten in ihrer Bedeutung zurück hinter der Aufgabe, “in kürzester Frist” das Lebensniveau der ent-wickeltsten kapitalistischen Staaten zu erreichen. Und je deutlicher es wurde, wie schwierig, ja in den vorgegebenen Fristen sogar unlösbar diese Aufgabe war, umso mehr wurden die inter-nationalen Pflichten und Verpflichtungen als Belastung und Behinderung bei der Lösung der ‘Hauptaufgabe’ empfunden. Dies zum einen.

Zum anderen: Durch die Proklamation des friedlichen ökonomischen Wettbewerbs zur Hauptform, wenn nicht gar zu der allein noch anzuwendenden Form des Kampfes gegen den Imperialismus, den man einholen müsse, der also zum erstrebenswerten Vorbild zumindest auf dem Gebiet der Pro-Kopf-Produktion erklärt wurde (einer Produktion, die nicht irgendwie auf bestimmte Bedürfnisse begrenzt wurde, sondern pauschal die gesamte Produktion, mithin auch gänzlich unnütze und schädliche, die Umwelt zerstörende westliche Produktionen einschloss), wurde aus dem Feind der Menschheit unmerklich immer mehr ein bewunderter Lehrmeister. Und ohne dass dies Wort je geprägt worden wäre, wurde zur inneren Losung für viele die Abwandlung einer längst verblassten früheren Losung, nämlich: ‘Von den USA lernen, heißt siegen lernen!’ und auch: ‘Vom Westen lernen, heißt angenehm leben lernen!’ (…)

Diese Strömung entstand keineswegs als eine Art ‘Subkultur’. Nein, die Bewunderung für die westliche Lebensart – deren Kehrseite darin bestand, darauf zu verzichten, sich weiterhin um die Herausbildung einer eigenen sozialistischen Lebensart zu bemühen – erhielt keine geringen Impulse ‘von oben’. Das Bild des Imperialismus, das von dort kam, verlor immer mehr die Züge des ‘hässlichen Amerikaners’, des Weltausbeuters und Weltgendarmen, und nahm immer mehr die Züge des Partners, wenn nicht sogar eines Freundes an.(…)

Das Schwergewicht des Kampfes um den Frieden verlagerte sich vom Massenkampf der Völker auf die diplomatische Ebene. Im gleichen Maße, wie Erfolge im Kampf um die friedliche Koexistenz in erster Linie von den Begegnungen der Führer der USA und der Sowjetunion, von deren persönlichen Begegnungen auf Gipfeltreffen, erhofft und erwartet wurden, blieb für die Völker nur die passive Rolle der Beifall spendenden oder ihr Missfallen äußernden Zuschauer bei den Aktionen der Staatenlenker auf der politischen Bühne. Mit einer solchen Entwicklung unvermeidlich verbunden war die Verbreitung einer Ideologie, nach der Erfolge in der Entspannungspolitik eine Sache des persönlichen Einsatzes und Geschicks der Spitzenpolitiker sind, und die Verflüchtigung des Wissens darum, dass die Spannungen zwischen imperialistischen und sozialistischen Staaten ihre tiefste Ursache in objektiv gegebenen anta-gonistischen Gegensätzen haben, die auch durch noch so großes diplomatisches Geschick nicht aus der Welt geschafft werden können.

Ihren auffälligsten, aber doch kaum beachteten Niederschlag fand dieser Wandel in der Neu-definition der Generallinie der sowjetischen Außenpolitik in der Ära der Chrustschowschen Gipfeldiplomatie.

War bislang die friedliche Koexistenz immer definiert worden als die Politik, die gegenüber den Ländern der kapitalistischen Welt, also den Ländern mit einer anderen als der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu befolgen sei, während die Politik gegenüber den sozialistischen Bruderländern und den jungen Nationalstaaten von den Prinzipien der freundschaftlichen Zusammenarbeit und der gegenseitigen Unterstützung getragen sein müsse, wurde nun auf einmal seitens der Sowjetunion erklärt, friedliche Koexistenz sei “die Generallinie der sowjetischen Außenpolitik”. (10)

Damit war, obwohl offiziell abgestritten, das Prinzip zum Ausdruck gebracht worden, dass die sowjetische Außenpolitik nunmehr in ihren Beziehungen zu den sozialistischen Ländern und zu den jungen Nationalstaaten sich von keinen anderen Grundsätzen leiten lassen werde als in ihren Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern. Diese Neuorientierung stieß jedoch auf erheblichen Widerstand in der internationalen kommunistischen Bewegung und wurde nach der Entfernung Chrustschows von der Parteispitze (Oktober 1964) wieder rückgängig gemacht, wurde dann allerdings nach 1985 wieder verkündet.

Die Veränderungen in der Politik der Sowjetunion, die wir in diesem Abschnitt betrachtet haben, bedeuteten – meiner Meinung nach – einen Bruch mit marxistischen und Lenin’schen Prinzipien in mehrfacher Hinsicht:

1. Durch die Preisgabe des Zieles der Herausbildung einer sozialistischen Gesellschaft mit einer eigenen, dem kapitalistischen ‘way of life’ diametral entgegen gesetzten, an den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und des sozialistischen Internationalismus orientierten Lebensweise;

2. Sie stellen auch einen Bruch dar mit der Marx’schen und Lenin’schen Revolutionstheorie durch Orientierung auf eine Strategie, die zur Niederlage führen musste.

Als Marx und Engels über den Gang der Revolution in der Mitte des vorigen Jahrhunderts nachdachten, gab es Kapitalismus und Proletariat nur in Westeuropa in einigermaßen entwi-ckelter Form. Daraus folgte, dass proletarische Revolutionen nur in diesem Teil der Welt er-wartet werden konnten, also dort, wo der Kapitalismus am stärksten entwickelt war. Mit der Ausbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse über den ganzen Erdball und dem Hinü-berwachsen des Kapitalismus in sein monopolistisches Stadium ging eine grundlegende Ver-änderung der Voraussetzungen für die Perspektive der sozialistischen Revolution einher. Diese Veränderung warf ihre Schatten voraus, indem das Land der fortgeschrittensten kapitalistischen Entwicklung, England, einige Züge, die für den kommenden Monopolkapitalismus charakte-ristisch werden sollten, schon vorwegnahm. Am 7. Oktober 1858 brachte Friedrich Engels in einem Brief an Marx die Beobachtung zu Papier, “dass das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so dass diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bour-geoisie zu besitzen. Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist das allerdings gewis-sermaßen gerechtfertigt.” (11)

Zu Beginn unseres Jahrhunderts zog Lenin aus den stattgefundenen Veränderungen den Schluss, dass die Vorstellung korrigiert werden müsse, nach der die proletarische Revolution zuerst und gleichzeitig in den höchstentwickelten kapitalistischen Ländern Europas zum Erfolg kommen müsse; vielmehr sei zu erwarten, dass die Kette der Herrschaft des Imperialismus zuerst dort durchbrochen werde, wo die von der Entfaltung des Kapitalismus hervorgerufenen Widersprüche ihre stärkste Sprengkraft entwickelten, und das seien nicht die fortgeschrittensten kapitalistischen Länder, sondern diejenigen Länder, in denen sich die kapitalistische Aus-beutung mit Resten vorkapitalistischer Ausbeutung verquicke und dadurch die Stoßkraft des revolutionären Proletariats verstärkt werde durch die sozialrevolutionären Bestrebungen nichtproletarischer Ausgebeuteter.

Der Gang der Geschichte hat diese Lenin’sche Voraussicht bestätigt. Aus eigener Kraft siegten sozialistische und antiimperialistische Revolutionen, die in sozialistische Revolutionen hinü-berwuchsen, in China und in Ländern der ‘Dritten Welt’, während zugleich immer deutlicher wurde, dass an siegreiche sozialistische Revolutionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern auf absehbare Zeit nicht zu denken war. Bevor für das Proletariat dieser Länder Marxens Ausspruch wieder Geltung haben wird: “Das Proletariat hat nichts zu verlieren als seine Ketten!”, muss der Bourgeoisie dieser Länder die Möglichkeit genommen werden, aus dem Blut und Schweiß der Völker der ‘Dritten Welt’ den Reichtum zu gewinnen, der es ihr erlaubt, “ein bürgerliches Proletariat zu besitzen”.

Was bedeutete angesichts einer solchen Situation und angesichts der Kapitalarmut der RGW-Staaten im Vergleich zu den USA und den Ländern der EG eine Zielstellung, wie sie der XXII. Parteitag der KPdSU beschlossen hat, nämlich das Produktionsniveau der entwickeltsten kapitalistischen Staaten ‘in kürzester Frist’ einzuholen, um auf diese Weise die Arbeiter des Westens zu revolutionieren und zum Sturze des Kapitalismus zu bewegen?

Sie kommt dem dilettantischen Versuch gleich, eine Festung, die nur durch Einkreisung und langwierige Belagerung zu nehmen ist, mit unterlegenen Kräften im Frontalangriff stürmen zu wollen.

Mit anderen Worten: Eine derartige Zielstellung bedeutete, die ohnehin geringen Mittel auf eine unlösbare Aufgabe zu konzentrieren, statt diese Mittel für die komplexe Stärkung der eigenen Wirtschaft und für die wirkungsvolle Unterstützung jener revolutionären Kräfte einzusetzen, ohne welche die Einkreisung und erfolgreiche Belagerung der Festung nicht gelingen kann.

Das Ergebnis dieser auch von den Nachfolgern Chrustschows nicht prinzipiell verworfenen strategischen Fehlorientierung war zum einen statt einer Verringerung des Rückstandes ge-genüber dem Westen ein stetiges Anwachsen dieses Rückstandes, statt Verbesserung der Versorgung im eigenen Land deren zunehmende Verschlechterung und schließlich eine immer schwächer und unwirksamer werdende Unterstützung der revolutionären Bewegungen und der Nationalstaaten mit sozialistischer Orientierung wie Äthiopien, Angola, Moçambique und andere.

Dies allerdings war auch und immer mehr dem Umstand geschuldet, dass die sowjetische Führung in die imperialistische Falle des Totrüstens tappte. Statt sich auf ein Rüstungsniveau zu beschränken, das die unbedingt notwendige Fähigkeit zu einem atomaren Gegenschlag im Falle einer imperialistischen Aggression gewährleistete, aber die Anforderungen an die Wirt-schaftskraft nicht überspannte, ließ sie sich auf einen Rüstungswettlauf ein, der umso sinnloser war, als zur gleichen Zeit der Warschauer Pakt immer mehr ausgehöhlt wurde.

Das Ziel, die USA in der Pro-Kopf-Produktion einzuholen und zu überholen, wurde, wenn irgendwo, dann auf dem Gebiet der Rüstung, der Zahl der Panzer, Flugzeuge, Granaten und Raketen ‘pro Kopf’ erreicht. Auch hierin sehe ich einen eindeutigen Bruch mit Lenin’schen Grundsätzen. Folgt man ihnen, darf man zwar die materielle Sicherung der Verteidigung der revolutionären Errungenschaften niemals gering schätzen, muss aber die entscheidende Kraft zu deren Verteidigung immer in den Menschen sehen, die bereit sind, sie zu verteidigen. Deren Zahl nahm jedoch – wie sich jetzt in bestürzender Weise gezeigt hat – im gleichen Maße ab, wie sich die Rüstungsarsenale füllten und aufblähten.

3. Zur Preisgabe einer wissenschaftlich fundierten Wirtschaftsplanung

Die tiefe Krise des Sozialismus und sein Zusammenbruch in Europa haben bei vielen Sozialisten eine ähnliche Reaktion ausgelöst wie seinerzeit der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaft in der Weltwirtschaftskrise von 1929/33 bei vielen damaligen Verfechtern der Marktwirtschaft. Diese sahen eine Überlebenschance für den Kapitalismus nur, wenn er – dem Vorbild der Sowjetunion folgend – zur Planwirtschaft übergehe, aber natürlich zu einer kapi-talistischen Planwirtschaft. ‘Planwirtschaft’, ‘geplante Wirtschaft’, ‘Wirtschaftsplanung’, – das war damals das gängige Heil-Rezept für den siechenden Kapitalismus, wie ‘Marktwirtschaft’, ‘sozialistische Marktwirtschaft’ in den letzten Jahren als Heilmittel für den stagnierenden So-zialismus gepriesen wurde.

(In beiden Fällen scheinen diejenigen recht behalten zu haben, die der Meinung waren, dass ‘kapitalistische Planwirtschaft’ ebenso unrealisierbar ist wie ‘sozialistische Marktwirtschaft’: die ‘kapitalistische Planwirtschaft’ hat nur als Planung zur Kriegsvorbereitung funktioniert, die ‘sozialistische Marktwirtschaft’ führte und führt überall, wo sie versucht wurde und wird, in die ‘echte’ Marktwirtschaft, in den Kapitalismus.)

Auch in der Presse des Demokratischen Sozialismus ist es längst üblich, nicht mehr von Planwirtschaft zu sprechen, wenn von den sozialistischen Ländern die Rede ist, sondern man hat die schon jahrzehntelang übliche Terminologie der Kapitalismusverteidiger übernommen und spricht nur noch pejorativ von “staatlicher Kommandowirtschaft” als Synonym für Plan-wirtschaft.

Merkwürdigerweise wird nirgends auch nur erwogen, ob vielleicht gar nicht das Prinzip der Planwirtschaft – das doch eindrucksvolle Proben seiner Brauchbarkeit geliefert hat – versagt hat, sondern ‘nur’ die konkrete Planung, also die Planer, die falsche, unbrauchbare Pläne produziert haben. Das ist deshalb merkwürdig, weil doch eigentlich nichts leichter zu begreifen ist als dies: ebenso, wie eine Brücke nur dann die gewünschte Tragfähigkeit einbringt, wenn in der Planung die Gesetze der Statik exakt berücksichtigt werden, ebenso kann ein Wirtschaftsplan nur dann funktionieren, wenn er die ökonomischen Gesetze exakt in Rechnung stellt.

Um nicht schon wieder Lenin als Kronzeugen anzurufen, der ja ohnehin schon verdächtig ist, an allem schuld zu sein, weil er quasi der Erzvater des Stalinismus sei, lasse ich Bucharin zu diesem Punkte zu Wort kommen, der den allen Marxisten geläufigen Unterschied zwischen der Entwicklung des Kapitalismus und dem Aufbau des Sozialismus folgendermaßen veranschau-licht:

“Die Bourgeoisie hat den Kapitalismus nicht geschaffen, er hat sich selbst geschaffen. Das Proletariat wird als ein organisiertes, kollektives Subjekt den Sozialismus als ein organisiertes System errichten. Während der Prozess der Entstehung des Kapitalismus ein spontaner Prozess war, ist der Prozess der Errichtung des Sozialismus ganz entscheidend ein bewusster, das heißt organisierter Prozess … Die Epoche des kommunistischen Aufbaus wird darum unvermeidlich eine Epoche geplanter und organisierter Arbeit sein.” (12)

Daraus folgt, dass alle Versuche, den Sozialismus so zu konstruieren, dass er ein “sich selbst regulierendes System” wird, dem Versuch gleichkommen, das perpetuum mobile zu bauen.

Gerade weil der Sozialismus bewusst und geplant errichtet werden muss und nur so errichtet werden kann, ist er so schwer zu machen, weil abhängig von der Reife des Bewusstseins und des Niveaus des wissenschaftlichen Denkens sowie der Beherrschung der marxistischen politischen Ökonomie durch die Planer und Erbauer. Darum ist auch der Kampf um den richtigen Plan so wichtig, notwendig und zuweilen auch so erbittert gewesen, ging es doch dabei – wie wir besser verstehen müssten als jede Generation vor uns – um Sein oder Nichtsein des Sozialismus, also darum, ob die Oktoberrevolution die große Wende in der Menschheitsgeschichte bleibt oder ob alle Opfer, die seitdem gebracht wurden, umsonst waren und der Sozialismus noch einmal ganz von vorn anfangen muss.

Der Sozialismus gedeiht und ist dem Kapitalismus überlegen, wenn die Pläne des sozialistischen Aufbaus stimmen; er muss zugrunde gehen, wenn an die Stelle wissenschaftlicher Planung dilettantische Fehlplanung, Wunschdenken, Abenteurertum und pragmatische Stümperei treten.

Zu fragen ist, ob es in den letzten dreißig Jahren im Rahmen des RGW und in den einzelnen Mitgliedsländern eine Planwirtschaft gab, die diesen Namen wirklich verdient.

Ich glaube, es ist in diesem Falle gar nicht notwendig, sehr umfangreiche Daten zusammen-zutragen; man muss auch keine jahrelangen Forschungen betrieben haben, um das Nein als Antwort auf diese Frage begründen zu können. Ich meine, mit dem bisher Gesagten eigentlich dieses Nein schon begründet zu haben:

Es gab keine und konnte keine echte Planwirtschaft geben,

erstens, weil auf der Grundlage des “nationalkommunistischen” Prinzips: “Jeder macht das Seine und duldet keine Einmischung”, eine sozialistische internationale Arbeitsteilung, die diesen Namen verdient, nicht möglich ist; weil die im Rahmen des RGW getroffenen Planungen und Abmachungen keine zuverlässige Grundlage für die eigene Planung waren; weil im RGW zwar gegenseitige Abhängigkeiten geschaffen wurden, diese aber je länger desto mehr aus Quellen gegenseitiger Hilfe zu Störquellen der eigenen Entwicklung wurden;

zweitens, weil in der Sowjetunion, dem sozialistischen Land, von dessen wirtschaftlicher Entwicklung alle anderen europäischen sozialistischen Ländern abhingen, seit Mitte der fünf-ziger Jahre anstelle wissenschaftlicher Wirtschaftsplanung unberechenbare Sprunghaftigkeit und hochgradiger Subjektivismus vorherrschend waren, von denen alle sozialistischen Länder in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Dafür seien nur einige wenige Beispiele kurz skizziert: (…)

Die Landwirtschaftspolitik. In der Chrustschow-Ära (der Name Chrustschow steht hier stets nicht nur für den einen Mann, sondern für die Strömung in der KPdSU, deren Exponent er ist) wurde der Landwirtschaft mehr Aufmerksamkeit gewidmet als je zuvor. Die Lösung des Ge-treideproblems, also die Sicherung solcher Ernten, die nicht nur die Versorgung der eigenen Bevölkerung gewährleisteten, sondern darüber hinaus Überschüsse für den Export und zur Hilfeleistung an befreundete Länder ermöglichen würden, war in der Tat eine Angelegenheit von eminenter ökonomischer und politischer Bedeutung. Zwei Hauptwege wurden vorge-schlagen, um dieses Ziel zu erreichen:

Der eine Weg bestand darin, die Bodenbearbeitung in den alten Landwirtschaftsgebieten zu intensivieren und die relativ niedrigen Hektarerträge auf diese Weise an das mitteleuropäische Niveau heranzuführen. Damit wäre ohne allzu große Aufwendungen eine sichere stetige Stei-gerung der Ernteerträge gewährleistet worden. Der andere Weg war der von Chrustschow, Breshnew und anderen propagierte Weg der Urbarmachung von 30 Millionen Hektar Neuland in Mittelasien. Viele Fachleute rieten von diesem Weg ab, weil er ungeheure Summen ver-schlingen würde, ohne eine Gewähr für sichere Ernten im Neuland zu geben, weil dessen klimatische Bedingungen die Saat durch scharfe Fröste und das reifende Getreide durch häufig auftretende Dürre gefährdeten. Zudem musste man buchstäblich eine kleine Völkerwanderung in Gang setzen und Wohnsiedlungen aus dem Boden stampfen, ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit, in kurzer Zeit die für die Bearbeitung solch riesiger Flächen notwendigen Landmaschinen bereitzustellen. Trotz dieser nur allzu begründeten Einwände setzten Chrust-schow und seine Parteigänger die Neulandaktion durch mit der Versicherung, dass dadurch das Getreideproblem ein für allemal gelöst werde. Das Gegenteil aber trat ein: von Jahr zu Jahr musste die Sowjetunion immer größere Mengen Getreide einführen, um das wachsende Defizit im eigenen Aufkommen auszugleichen. Die Neulandaktion war ganz gewiss eine große Leis-tung, aber sie war ein gewaltsamer Kraftakt, der das Land ungeheuren Aufwand an Menschen, Material und Finanzkraft kostete, ohne dass auch nur annähernd das erreicht wurde, was man auf dem sehr viel sparsameren Weg der Intensivierung der Landwirtschaft mit einem Bruchteil der Aufwendungen hätte erreichen können. Die Neulandaktion war eine gigantische Fehlin-vestition und ganz gewiss eine der Ursachen für die Dauerkrise der sowjetischen Landwirt-schaft. Sie hat mit wissenschaftlicher Planwirtschaft nicht das Geringste zu tun.

Aber die Neulandaktion war durchaus nicht die einzige Aktion, die eine stabile Entwicklung der Landwirtschaft behinderte. Wie auf allen Gebieten, so zeichnete sich der Führungsstil Chrustschows auch auf dem der Landwirtschaft dadurch aus, dass die Menschen von einer Kampagne in die andere gejagt wurden. War es gestern die Maiskampagne, so heute die Kampagne für die Offenställe, dann eine Kampagne für das Quadratnestverfahren, usw. usf. Das Ergebnis war aber jeweils nicht der versprochene Sprung nach vorn, sondern am Ende blieb gewöhnlich die Aufgabe, den angerichteten Schaden so klein wie möglich zu halten.

Ein weiteres Beispiel für die Sprunghaftigkeit und Willkürlichkeit des Umgangs mit der Wirtschaft: Auf dem XX. Parteitag der KPdSU waren noch die Richtlinien für den 6. Fünf-jahrplan 1956-1960 beschlossen worden, ein Zahlen- und Planwerk, das auch für alle RGW-Staaten die Grundlage ihrer eigenen Planung war. Aber mitten in der Planung befand Chrustschow, dass der Fünfjahrplan von einem Siebenjahrplan abzulösen sei, und so wurde festgelegt, dass ab 1959 bis 1965 ein Siebenjahrplan in Kraft tritt, womit nicht nur die Pla-nungsbehörden der Sowjetunion, sondern die aller RGW-Länder mit einer ebenso kraft- wie zeitaufwendigen wie überflüssigen und nutzlosen Stoßarbeit beschäftigt und von wirklich nützlicher Arbeit abgehalten wurden.

Das Ergebnis der Arbeit am Siebenjahrplan waren die Festlegungen, die ich schon oben an-führte, über das Einholen der USA bis 1970 und den Übergang zum Kommunismus bis 1980. Ich denke, dass es nicht erforderlich ist, im einzelnen nachzuweisen, dass diese Zielstellung mit wissenschaftlicher Planung nichts zu tun hatte, umso mehr aber mit Wunschdenken und Abenteurertum. Die unbegreifliche Absurdität dieser ‘Plan’ziele tritt noch um vieles deutlicher hervor, wenn man sich daran erinnert, dass auf dem gleichen XXII. Parteitag, der beschloss, diese Ziele in das neue Parteiprogramm aufzunehmen, die bittere Auseinandersetzung mit der KP Chinas begann, die durch die Einstellung aller vertraglich vereinbarten Lieferungen der Sowjetunion von Industrieausrüstungen und durch die Zurückziehung aller sowjetischen Spe-zialisten aus der Volksrepublik China aufs Äußerste zugespitzt wurde und schließlich zum vollständigen Bruch zwischen diesen beiden größten sozialistischen Staaten führte, deren Zu-sammenarbeit eine der wichtigsten Garantien für die Behauptung des Sozialismus gegenüber den imperialistischen Erdrosselungsversuchen gewesen wäre.

All dies zusammengenommen hatte zum Ergebnis, dass auch in keinem RGW-Land eine solide Wirtschaftsplanung möglich war, je länger, desto weniger.

Das hatte zur Folge, dass die einen – wie Ungarn und Polen – sich immer mehr auf den kapita-listischen Weltmarkt orientierten und dort, bei der Weltbank und dem Internationalen Wäh-rungsfonds, Anlehnung suchten, mit dem Ergebnis einer schleichenden, verdeckten Aushöh-lung der Prinzipien sozialistischer Wirtschaft; jeder, der in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre und danach in Polen und Ungarn war, wird sich noch daran erinnern, wie ihn das reich-haltige Warenangebot überraschte, aber auch die deutlich stärkeren sozialen Kontraste, die dort eine Atmosphäre schufen, die eine so merkwürdige Mischung aus beiden Welten – der sozia-listischen und der kapitalistischen – darstellte.

Die Führungen anderer sozialistischer Länder – wie auch der DDR – versuchten trotz aller Schwierigkeiten, sozialistische Wirtschaftsprinzipien – wie etwa in der Formel “Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik” zum Ausdruck gebracht, oder in dem Bemühen, die Lebens-haltungskosten nicht steigen zu lassen – in die Praxis umzusetzen und eine sozialistische Planwirtschaft aufrechtzuerhalten. Das aber war unmöglich.

Zwar suchte die sowjetische Führung nach der Entfernung Chrustschows aus der Leitung wieder zu einer gesunden und normalen Planung zurückzukehren; dennoch geriet das Land immer tiefer in krisenhafte Verhältnisse. Am Anfang seiner Amtsführung gab Gorbatschow dafür eine treffende Erklärung: er sagte nämlich, die Beschlüsse, die die Partei damals auf ihren Tagungen gefasst habe, seien wohl richtig gewesen, aber sie wären auf dem Papier geblieben. (Die Frage, warum das so war, ist zwar von größter Wichtigkeit, gehört aber nicht zu unserem Thema.)

So geriet die Wirtschaft des Sowjetlandes immer tiefer in die Krise und damit unvermeidlich auch alle mit ihr auf Gedeih und Verderb verbundenen sozialistischen Länder.

Deshalb waren auch alle Versuche, die z.B. in der DDR unternommen wurden, dennoch eine funktionierende sozialistische Planwirtschaft in Gang zu halten, vergeblich. Zwar errechnete man, wie groß die Wachstumsrate der Volkswirtschaft sein müsse, um sowohl die Hebung des Lebensstandards als auch die Sicherung der notwendigen Akkumulation gewährleisten zu können; aber erreicht wurde diese Wachstumsrate von Jahr zu Jahr weniger, und mehr und mehr nur noch mit Hilfe der Statistik. Ferner: Da innerhalb des RGW die gemeinsame Arbeit an der Entwicklung der modernsten Technik, etwa der Mikroelektronik, nicht zustande kam, die DDR aber ohne deren Entwicklung ihre Exportfähigkeit auf dem kapitalistischen Weltmarkt nicht aufrecht erhalten konnte, unternahm sie den zugleich bewundernswerten wie mitleiderregenden Versuch, durch Eigenentwicklungen mit solchen Riesen wie IBM, Siemens und den japanischen Firmen mitzuhalten – ein Versuch, der natürlich jede ausgewogene Proportionalität der Wirtschaftsentwicklung illusorisch machte. Schließlich: Die Führung der DDR hatte ver-sprochen, das Preisniveau für lebensnotwendige Güter nicht zu erhöhen; aber die ökonomischen Gesetze können auch durch die besten Absichten nicht außer Kraft gesetzt werden. Steigende Weltmarktpreise und sinkende Exporterlöse, sprunghaft wachsende Subventionen auf Kosten einer ständig sinkenden Akkumulationsrate, dadurch immer teurere Produktion – all das schlug sich nieder in einer schleichenden Preiserhöhung auf nahezu allen Gebieten, die, weil offiziell nicht zugegeben, das Vertrauen in die unglaubwürdig gewordene Führung untergrub. (Ich weiß natürlich, dass ich damit nur einen der Gründe genannt habe, die zur Untergrabung des Vertrauens geführt haben.)

Wie lautet am Schluss die Antwort auf die Frage nach der Chance des Sozialismus? Meine Antwort ist: diese Chance war nach 1945 nicht geringer als nach 1917.

Aber: Der Sozialismus ist in Theorie und Praxis eine Wissenschaft. Die Theorie des Marxis-mus-Leninismus ist nicht eine Verzierung im Reiche der Ideen oder eine Sache nur für die Hörsäle, sondern sie ist zuerst und vor allem für die Praxis da, sie muss Kompass für das praktische Handeln sein – andernfalls muss das Schiff Sozialismus stranden.

Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass dieser Kompass in der Tat über Bord geworfen wurde. Danach kam es, wie es kommen musste. Statt dass die Sowjetunion und die sozialistischen Länder den Rückstand zu den entwickelten kapitalistischen Ländern allmählich, aber stetig verringerten, wuchs er von einem bestimmten Zeitpunkt an stetig an, verschlechterte sich die Lage der Menschen von Jahr zu Jahr, statt sich zu verbessern, verlor infolgedessen der Sozialismus immer mehr an Attraktivität und Legitimität, bröckelte die Massenbasis der sozialistischen Staatsmacht – im letzten Stadium bis in die Partei hinein – ab, verlagerte sich infolgedessen die Abstützung der Staatsmacht immer mehr von der Unterstützung durch die Massen auf die Absicherung durch die Sicherheitsorgane, die auf diese Weise aus Organen zum Schutz der Volksmacht zu Organen zum Schutz der Staatsmacht vor der Explosion der Unzufriedenheit im Volk wurden – was eines der krassesten Symptome für die Denaturierung der sozialistischen Ordnung darstellt, dafür, dass sie volksfremd geworden war, so dass ein Anstoß genügte, sie zu Fall zu bringen.

Durch diesen Gang der Entwicklung ist der Marxismus-Leninismus nicht widerlegt, sondern – wenn auch negativ – vollkommen bestätigt. Dieser Gang der Entwicklung offenbart zum an-deren die Verlogenheit all derer, die da schreien: “vierzig Jahre sozialistische Misswirtschaft!”, so wie die Braunen nach ihrem Triumph am 3o. Januar nicht müde wurden, anklagend zu schreien: “Vierzehn Jahre Marxismus!”

Der Anfang – die Verjagung der Junker und Konzernherren, die Umwälzung der Jahre 1945 bis zur II. Parteikonferenz der SED 1952 mit dem Beschluss zum Aufbau des Sozialismus – war und bleibt die radikalste und längst fällig gewesene revolutionäre Umwälzung, die Deutschland bis dahin erlebt hat.

Man kann nur fragen: Selbst wenn das alles richtig ist, was hilft uns das heute, in unserer Si-tuation?

Ich denke: ohne zu wissen, wie wir zum Heute gekommen sind, werden wir den Weg nicht finden zu dem Ziel, das wir anstreben. Denn nur, wenn wir dies wissen, werden wir vor fal-schen, übereilten, von Stimmungen diktierten Schlussfolgerungen bewahrt und davor, beim Korrigieren von Fehlern neue, vielleicht noch schlimmere, Fehler zu begehen.

Den schlimmsten, heute aber zugleich am weitesten verbreiteten Fehler sehe ich in der Absage an die Erkenntnis von Marx und Engels, dass die Geschichte der Menschheit die Geschichte von Klassenkämpfen ist. Sie ist das auch und gerade in unserer Zeit.

Wir sind doch schließlich nicht Opfer dessen geworden, dass wir zu heftig gegen den Impe-rialismus – der sein wahres Gesicht, kaum dass er den Sozialismus niedergeworfen hat, am Golf in ganzer Abscheulichkeit zeigt – gekämpft hätten; nein, wir sind untergegangen erst dann, als und weil gar zu viele von uns aufgehört haben, gegen ihn zu kämpfen, und angefangen haben, auf seine ‘Vernunft’ und auf seine Bereitschaft zu bauen, mit dem Sozialismus friedlich koe-xistieren zu wollen.

Wir werden nie zu richtigen Schlussfolgerungen kommen, wenn wir nicht begreifen, dass der Imperialismus zu keinem Zeitpunkt sein Ziel aufgegeben hatte und hat, den Sozialismus aus der Welt zu schaffen. Bush hat es doch unverblümt ausgesprochen. Wem und warum haben wir bloß geglaubt, dass aus dem Raubtier ein Vegetarier geworden ist, dass sich der Imperialismus von nun an mit uns gemeinsam in seinem Handeln von den “allgemein menschlichen Interessen” leiten lassen würde!

Nachdem wir erlebt haben und am Beispiel der imperialistischen Tollheit am Golf erleben, dass wir nicht den geringsten Grund haben, die Lehren eines Karl Marx, Friedrich Engels und Lenin als veraltet und ins Museum gehörig zu behandeln, sollten wir allen Tendenzen entgegentreten, die darauf hinauslaufen, die glücklich vollbrachte Leistung der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft umzukehren und die Rückentwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Utopie zu propagieren.

Es kann nicht Sache der Sozialisten sein, sich nach einer Niederlage – auch wenn sie so auf-wühlend und erschütternd ist wie die, die wir durchleben – von den Siegern auch geistig überwältigen zu lassen, indem sie zu deren Konfession konvertieren, sondern sie müssen ihre Erkenntnisse erweitern und bereichern durch die verarbeiteten Erfahrungen der Niederlage in der Gewissheit, dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist und nicht das letzte Wort der Geschichte sein darf, wenn die Geschichte der Menschheit weitergehen soll.

Vortrag in der “Marzahner Runde”, geleitet von Renate Schönfeld, am 12. Januar 1991, veröffentlicht in “Weißenseer Blätter” 2/91, S.55-68, danach in Kurt Gossweiler, Wider den Revisionismus, München (Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung) 1997, S. 289-371.

Anmerkungen:

(1) Dies Memorandum befindet sich in der Akte NL 90/473, Bl. 328 – 41 im Zentralen Partei-archiv im Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung.

(2) Handbuch der Verträge 1871-1964, Berlin 1968, S. 606 f.

(3) Die Lehren aus der Entartung der jugoslawischen Parteiführung, Berlin 1948, S. 16

(4) ‘Vorwärts’ vom 17. 2. 1958

(5) W.I. Lenin, Werke, Berlin 1961, Bd. 26, S. 471 f.

(6) a.a.O., Bd. 67, S. 190

(7) Presse der Sowjetunion 13/1959, S. 267 f.

(8) Programm und Statut der KPdSU. angenommen auf dem XXII. Parteitag der KPdSU, Oktober 1961, Berlin 1961, S. 62 f.

(9) Rede des Gen. N.S. Chrustschow auf dem VI. Parteitag der SED, Berlin 1963, S. 15 f.

(10) Siehe ND vom 15. 7. 1963, Art: Ein Vorschlag zur Generallinie der internationalen Kommunistischen Bewegung. Antwortbrief des ZK der KP Chinas auf den Offenen Brief der KPdSU vom 30. 3. 1963; dieser ist in der gleichen Nr. des ND veröffentlicht.

(11) Marx/Engels, Werke, Berlin 1967, Bd. 29, S. 358

(12) Zitiert nach und übersetzt aus: Stephan F. Cohen, Bucharin and the Bolshevic Revolution, Oxford University Press, 1980, S. 90