Arbeiterklasse und Faschismus
Auf Druck verschiedener Funktionäre aus den Industriegebieten beschloss 1929 eine Sondertagung des Nürnberger Parteitages der NSDAP, zum Ausbau der Betriebszellenorganisation überzugehen. Im gleichen Beschluss wurde erklärt, Streikbrecher würden »mit Schimpf und Schande aus der NSDAP entfernt.«
Dieser Teil des Beschlusses blieb ohne jegliche praktische Folgen, war doch die gesamte Betriebszellenorganisation der NSDAP ihrem innersten Wesen nach nichts anderes als eine Streikbrecherorganisation im Dienste des Unternehmertums. Der Beschluss wurde aber überdies faktisch zurückgenommen durch eine spätere ergänzende Auslegung, die besagte, Streikbruch liege nur dann vor, wenn es sich um einen von der NSBO (Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation) geführten Streik handele.
Bis August 1932 war jedoch die Haltung der NSBO gegenüber Streiks dadurch festgelegt, daß sie keine Streikunterstützung zahlen durfte. Zu ihrer Hauptaufgabe wurde der Kampf gegen den »Betriebsmarxismus«, also vor allem gegen die Gewerkschaften, erklärt. So hieß es in »Richtlinien für die Arbeit der NSDAP-Betriebsfunktionäre« aus dem Herbst 1930: »Der nationalsozialistische Betriebsfunktionär hat die Aufgabe, 1. den Marxismus in seinen stärksten Bollwerken – den Betrieben – zu schlagen, 2. die Betriebe zu Hochburgen des Nationalsozialismus auszubauen. Im Vordergrund der Propaganda hat zu stehen: a) Aufklärung über den Verrat ihrer politischen Führer; b) Wesen und Ziele des nationalen Sozialismus.«
Über die sozialpolitische Tätigkeit der NSBO hieß es dort: » Sie umfasst: I. Beratung der Belegschaft 1. In Tariffragen, 2. Im Arbeitsrecht, 3. In der Sozialversicherung. II. Vertretung der Belegschaft 1. gegenüber der Firma, 2. beim Arbeitsgericht, 3. gegen rote Funktionäre und deren Terror. III. Vorbereitung und Durchführung von Betriebsratswahlen.«
Bedeuteten diese Richtlinien mit ihrer Orientierung auf den Kampf gegen die Funktionäre der Arbeiterorganisationen bereits eine deutliche Hilfeleistung für die Unternehmer, so wurden sie durch Richtlinien der Reichsleitung der NSDAP, die im Mail 1932 bekannt wurden, noch drastisch verschärft.
In der Einleitung zu diesen »Vertraulichen Richtlinien zur Durchführung unseres Kampfes im Entscheidungsjahr 1932 gegen Betriebsmarxismus« wurde ausgeführt, es sei wiederholt betont worden, »dass die NSBO keine Gewerkschaft ist, auch nicht der Vorläufer einer solchen. Die NSBO ist nichts weiter als die spezifische Waffe zur Eroberung der Betriebe durch Niederringung des Betriebsmarxismus. Nationalsozialisten schließen sich nur zu dem Zweck in der NSBO zusammen, um Idee und Weltanschauung in die Betriebe zu tragen. Als Gewerkschaft ist die NSBO schon durch die Feststellung des Reichsarbeitsgerichtes nicht anerkannt. Es kann also auch logischerweise keine Amtsgerichtsvertretung durch die NSBO stattfinden. Ebenfalls können bei Streiks keine Unterstützungen gezahlt werden. Allerdings kommen ja Streikfälle wenig oder fast gar nicht in Betracht. Bedenken sind dieserhalb bei den Herren Pg. Arbeitgebern zu zerstreuen.«(…)
Die Verschärfung des Klassenkampfes, vor allem in der zweiten Hälfte des Jahres 1932, zwang auch die Naziführung gegen ihren Willen dazu, nicht nur ihre sozialdemagogischen Parolen zu verschärfen, sondern darüber hinaus der NSBO zu gestatten, in bestimmten Fällen sich an Streiks zu beteiligen und sogar zu versuchen, sich an die Spitze zu stellen, um endlich einen Einbruch in die »marxistische Front« zu erzielen.
Mit Wirkung ab 1. August 1932 gab die Leitung der NSBO Streikunterstützungs-Bestimmungen heraus. (…) Aber nur bei Streiks, bei denen die Arbeiter ums nackte Überleben kämpften, sollte die NSBO mitstreiken dürfen! (…)
Ihren absoluten Höhepunkt erreichte die faschistische Sozialdemagogie gegenüber der Arbeiterklasse im Zusammenhang mit der Streikwelle, die sich – zumeist unter Führung der RGO – gegen die Papensche Lohnraubnotverordnung vom September 1932 erhob. Im Oktober verbreitete die NSBO ein Flugblatt mit der fettgedruckten Schlagzeile: »Bekenntnis zum Streik als Kampfmittel gegen die Verelendungspolitik.« In dem Flugblatt hieß es: »Jede Gegenwehr der durch die letzte Notverordnung des Herrn von Papen aufs tiefste verelendeten Volksgenossen ist nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich berechtigt. Darum stellt sich die Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation in diesem Kampfe an die Spitze der deutschen Arbeiterschaft.« (…)
Angesichts solcher Großmäuligkeit konnten es die Nazis nicht wagen, offenen Streikbruch zu begehen, als Anfang November 1932 die Berliner Verkehrsarbeiter unter Führung der RGO in den Streik traten. Sie erklärten offiziell ihre Teilnahme am Streik und entfachten darüber einen riesigen Propagandalärm.(…) Sie befanden sich in einer Zwangslage. Neue Reichstagswahlen standen am 6. November 1932 vor der Tür. Die letzten Wahlen im Juli hatten gezeigt, dass das bisherige Wählerreservoir der Nazipartei erschöpft war und die Partei seit Frühjahr 1932 stagnierte; aus dem bürgerlichen Lager war kein weiterer Zuwachs mehr zu erwarten. Aber die Nazipartei musste einen neuerlichen Wahlsieg erringen, sie mußte endlich den Beweis erbringen, dass sie fähig war, ihre Wählerstimmen nicht nur aus dem bürgerlichen Lager, sondern auch aus dem Lager der Arbeiterparteien zu holen. Sonst würde es sehr schwer, wenn nicht aussichtslos sein, den Widerstand des Reichspräsidenten Hindenburg und der hinter ihm stehenden Kreise aus der Finanzoligarchie und dem Junkertum gegen eine Übertragung der Kanzlerschaft an den Naziführer zu überwinden. Hinzu kam der wachsende Druck der eigenen Anhänger, denen die Not im Nacken saß…
Auszug aus einem Aufsatz in: Kurt Gossweiler: Aufsätze zum Faschismus. Akademie-Verlag, Berlin 1986, S. 456 ff., der aus Anlass des 85. Geburtstags von Kurt Gossweiler am 5. November 2002 in junge Welt vom 02.11.2002 abgedruckt wurde.