Chruschtschow und die Kuba-Krise (April 2006)

Kurt Gossweiler

CHRUSCHTSCHOW UND DIE KUBA- KRISE

In seinen Erinnerungen (Chuschtschow erinnert sich, Rowohlt 1971) prahlt Chr., er habe Kuba vor der USA-Intervention bewahrt. “Schaun mer mal!”

1.

Im Kapitel “Fidel Castro und die Kuba-Krise” (S.492-502) schildert er zu Beginn, dass er über Castro nach dessen Sieg über Batista nichts wusste. Als dann nach der Niederlage der Inter-venten in der Schweinebucht Castro erklärte, dass Kuba einen sozialistischen Kurs verfolgen werde, äußert sich Chr. dazu wie folgt:

“Wir hatten Mühe zu verstehen, warum er gerade diesen Zeitpunkt für diese Verlautbarung wählte…. Was Castros persönlichen Mut betraf, so war seine Haltung bewundernswert und richtig. Aber vom taktischen Standpunkt aus betrachtet war sie wenig sinnvoll.”

Sollte man vom Führer der Partei der Weltrevolution nicht eine andere Reaktion erwarten, wenn der Sozialismus nunmehr auch auf dem amerikanischen Kontinent Einzug hält? Nämlich eine solche, wie sie die Pariser Commune bei Marx und Engels auslöste? Allerdings: für einen, der sich zum Ziel gesetzt hat, Freundschaft mit dem Präsidenten der USA zu schließen, konnte ein Castro nur ein unerwarteter und unerwünschter Störfaktor sein. Das konnte er natürlich nicht offen zum Ausdruck bringen. Daher nur: “Taktisch wenig sinnvoll.” Aber das drückt deutlich genug aus, dass er sich gestört fühlte.

2.

“Wir waren sicher, dass die Amerikaner sich niemals mit der Existenz von Castros Kuba ab-finden würden. … Wir waren verpflichtet, alles zu tun, was in unserer Macht stand, um Kubas Existenz als sozialistisches Land und als praktisches Beispiel für die anderen Länder Latei-namerikas zu schützen.”

Damit kann man voll einverstanden sein, das klingt nach sozialistischem Internationalismus. Aber was dann folgt, ist Nationalismus pur: “Es war mir klar, dass wir (“wir”!) Kuba sehr wohl verlieren könnten, falls wir nicht einige entscheidende Schritte zu seiner Verteidigung unternahmen.” Und dann: “Als ich zu einem offiziellen Besuch in Bulgarien war, hämmerte … ununterbrochen ein bestimmter Gedanke auf mein Gehirn ein: Was passiert, wenn wir Kuba verlieren?”

Wenig glaubhaft, denkt man daran, dass dies der Mann sagt, der bedenkenlos dem sehr viel näher liegende sozialistische Albanien die Unterstützung der Sowjetunion entzog und der sogar den Bruch mit Volkschina vollzog!

“Ich wusste, es wäre ein schrecklicher Schlag für den Marxismus-Leninismus gewesen.” Das aus dem Munde des Mannes, der durch seine “Geheimrede” auf dem XX. Parteitag die ganze kommunistische Bewegung in eine Krise stürzte, die schließlich mit dem Untergang der Sowjetunion und ihrer europäischen Bruderländer endete, ist noch um vieles unglaubwürdiger!

3.

“Wir mussten ein greifbares und wirksames Abschreckungsmittel schaffen gegen eine ameri-kanische Einmischung in der Karibischen See. Aber was für eines? Die logische Antwort waren Raketen.”

Nein! Das war keine logische, sondern eine abenteuerliche Antwort! Oder etwa nicht? Er sagt es selbst: “Ich hatte Wert darauf gelegt, dass meine Genossen die Entscheidung mit reinem Gewissen akzeptierten und unterstützten und im vollen Bewußtsein, welche Folgen sich aus der Stationierung von Raketen auf Kuba ergeben konnten – nämlich Krieg mit den Vereinigten Staaten.”

Man kann sich nur darüber wundern, dass “seine Genossen” einem solch abenteuerlichen Vorhaben ihre Zustimmung gegeben haben sollen. Aber das hatten sie offenbar gar nicht. Denn Chruschtschows mehrfache Beteuerung, “Jeder Schritt, den wir unternommen haben, ist vom Kollektiv sorgfältig erwogen worden”, haben die Herausgeber seiner Erinnerungen mit fol-gender Fußnote versehen: “Eine Anspielung Chruschtschows auf die Vorwürfe bei seinem Sturz, er sei auch im Falle Kubas eigenmächtig vorgegangen.” (S.499).

So, wie wir Chruschtschow kennen, besteht kein Grund, an der Berechtigung dieses Vorwurfes zu zweifeln. Demnach war die “Kuba-Krise” ein Ergebnis eines der zahlreichen Beispiele des “Subjektivismus” und der eigenmächtigen Aktionen Chruschtschows, derentwegen er schließlich von “seinen Genossen” abgesetzt wurde.

4.

Was aber wäre eine wirklich “logische”, d. h. politisch richtige Antwort gewesen? Eine solche Antwort wäre z. B. ein Beistandspakt gewesen, in dem sich die Sowjetunion verpflichtet, im Falle eines Angriffes auf Kuba diesem mit allen seinen Mitteln Beistand zu leisten, oder auch die Anlage eines sowjetischen Militärstützpunktes (ohne Raketen) auf Kuba, nicht dagegen eine “Antwort”, die mit Leichtigkeit von der US-Regierung aller Welt als sowjetische Provokation vorgeführt werden konnte und dadurch die Handhabe bot für die Entfesselung einer Kampagne, die, statt Kuba zu schützen, es im höchsten Maße gefährden konnte, wie es ja in der Tat der Fall war. Was die Anlage einer sowjetischen Militärbasis auf Kuba betrifft, so gibt es dazu ein sehr aufschlußreiches us-amerikanisches Dokumente, das Horst Schäfer in seinem Buch: “Im Fadenkreuz: Kuba” (2. Aufl., Berlin 2005) gedruckt hat. Dort ist auf S. 182/83 zu lesen:

“Robert Kennedy hatte bereits am 22. März 1962 – also sieben Monate vor der Raketenkrise – dazu aufgefordert, über die Frage nachzudenken, wie die USA auf die Errichtung einer sow-jetischen Militärbasis reagieren könnten. General Edward Lansdale, der Chef der Operation Mongoose und Verfasser des Planes zum Sturz Castros im Oktober 1962 antwortete darauf am 31. Mai in einem Memorandum:

5.

Chruschtschows Beschreibung seiner Überlegungen zeugen von einer unfassbaren Verant-wortungslosigkeit und wirklich kriminellem Abenteurertum: “Während meines Besuches in Bulgarien kam mir der Gedanke, auf Kuba Raketen mit nuklearen Sprengköpfen zu installieren und ihre Anwesenheit dort vor den Vereinigten Staaten so lange geheimzuhalten, bis es für sie zu spät war, irgend etwas dagegen zu unternehmen.”

Wenn er schon selber nicht soviel Sachverstand hatte, um zu wissen, dass dies im Zeitalter der Satelliten-Überwachung des ganzen Globus rund um die Uhr eine primitive Illusion war – hat ihm das keiner der Militärs gesagt? Aber muss man ihm überhaupt glauben, dass er tatsächlich diese Illusion hegte? Es kommt aber noch abenteuerlicher und verantwortungsloser!

“Meine Gedanken gingen in folgende Richtung: wenn wir die Raketen heimlich installieren und wenn die Vereinigten Staaten erst entdecken, dass sich Raketen dort befanden, wenn diese bereits auf ihr Ziel gerichtet und abschussbereit waren, dann würden die Amerikaner es sich zweimal überlegen, bevor sie versuchten, unsere Einrichtungen mit militärischen Mitteln zu vernichten. Ich wußte, dass die Vereinigten Staaten zwar einige unserer Einrichtungen zerstören konnten, aber nicht alle. Wenn ein Viertel oder auch nur ein Zehntel unserer Raketen erhalten blieb – oder wenn auch nur eine oder zwei übrigblieben -, dann konnten wir noch immer New York treffen und dann würde von New York nicht mehr viel da sein.”

Bleibt zu fragen: und in welche Richtungen gingen seine Überlegungen für den wahrschein-lichsten Fall, nämlich den, dass die Installierung der Raketen viel früher entdeckt werden würde? Darüber schreibt er nichts, aber das ist gerade der Fall, mit dem er mit Sicherheit rechnen mußte und ebenso sicher auch gerechnet hat. Was für diesen Fall vorgesehen war, dürfte genau das sein, was dann nach der sehr frühen “Entdeckung” der Einfuhr der Raketen und ihrer begonnenen Installierung geschah – ein diplomatischer Notenwechsel, mit der US-Forderung nach Abbau der Raketen und der Kontrolle des Abbaus durch eine “UNO”- (sprich USA)- Kontrollkommission, der Chruschtschow dann ohne Befragung Castros zustimmte und Kennedy das billige Versprechen abgab, Kuba nicht anzugreifen.

Hätte Castro die Ausführung dieser hinter seinem Rücken zwischen Chruschtschow und Kennedy getroffenen Abmachung zugelassen, dann hätten die USA außer ihren Truppen in Guantanomo auch noch eine Kommission im Lande gehabt, der es nicht schwer gefallen wäre, einen Vorwand zu finden, um Castro irgendwelcher Regelverstöße, die Sanktionen rechtferti-gen, nachzuweisen. Castro aber fand den klügsten Weg, diese zweiseitige Intrige zu durch-kreuzen: er stimmte der Untersuchungskommission zu, aber nur unter der Bedingung, dass Kuba seinerseits eine Untersuchungskommission in die USA, nach Miami, schickt zur Untersuchung der Machenschaften der dortigen Exil-Kubaner gegen Kuba. Damit war die Frage einer Untersuchungskommission in Kuba erledigt.

6.

Chruschtschow rühmt sich in prahlerischster Weise, das Überleben des sozialistischen Kuba gesichert zu haben.

“Mein Brief an Castro beendete eine Episode der Weltgeschichte: Indem wir die Welt an den Rand eines Atomkrieges brachten (!),gewannen wir ein sozialistisches Kuba. … Die Karibische Krise war ein Triumph der sowjetischen Außenpolitik und ein persönlicher Triumph in meiner eigenen Laufbahn als Staatsmann und als Mitglied der kollektiven Führung.”

Chruschtschow rühmt sich zu Unrecht! Die vier Jahrzehnte seit der von Chruschtschow aus-gelösten Kuba-Krise haben eindeutig bewiesen: um Kubas Überleben zu sichern, bedarf es keiner an den Rand des Atom-Krieges führenden Aktion á la Chruschtschow! Die Sowjetunion und ihre europäischen Verbündeten sind untergegangen – die USA haben aber dennoch keinen Krieg gegen Kuba begonnen, und Castros Kuba hat allem Druck und allen Erdrosselungsver-suchen, sogar denen eines so kriegssüchtigen Präsidenten wie des Bush jr., standgehalten!

Das erste und Hauptverdienst dafür haben das kubanische Volk und seine Führung: Fidel Castro und die Kommunistische Partei Kubas! An zweiter Stelle zu nennen ist die weltweite Solidaritätsbewegung für Kuba, an dritter Stelle der wachsende Widerstand von immer mehr Völkern und Staaten auf allen Kontinenten der Erde gegen den Weltausbeuter und Weltpoli-zisten, den USA-Imperialismus.

7.

Chruschtschow dagegen rühmt in echter Revisionisten-Manier als zweiten Friedensretter niemanden anders, als den USA-Präsidenten Kennedy, (der nach der Karibik-Krise fortfuhr, Pläne zu schmieden für Sabotage- und Diversionsakte in Kuba und für neue Interventionen gegen Kuba und Mordanschläge auf Fidel Castro! (Nachzulesen bei Horst Schäfer: Im Fa-denkreuz: Kuba!, S.183 ff.) Als ob ihm das nicht durch die eigenen Geheimdienste berichtet worden wäre, schweigt sich Chruschtschow darüber aus.

Statt dessen lobt er – so überschwänglich wie früher den Präsidenten Eisenhower für dessen angebliche Friedensliebe – jetzt den Präsidenten Kennedy: “Die Episode endete mit einem Triumph des gesunden Menschenverstandes. Ich werde mich an den verstorbenen Präsidenten immer mit tiefem Respekt erinnern, da er sich letzten Endes als besonnener Mann erwies, entschlossen, einen Krieg zu vermeiden. Er ließ sich weder erschrecken, noch wurde er leichtsinnig. Er überschätzte Amerikas Macht nicht, und er hielt sich einen Ausweg aus der Krise offen. Er bewies wirkliche Klugheit und echtes staatsmännisches Können, als er den rechtsgerichteten Kräften in den Vereinigten Staaten, die ihn zu einer militärischen Aktion gegen Kuba aufzustacheln versuchten, den Rücken kehrte.”

8.

Man mag fragen: lobte Chruschtschow hier Kennedy nicht zu recht? Haben die beiden die Welt nicht vor dem Inferno eines Atomkrieges gerettet? So stellte Chruschtschow es dar, und so wird es bis heute geglaubt und in die Geschichtsbücher geschrieben. Aber muß man das glauben? Ich hatte daran schon damals meine Zweifel. In mein politisches Tagebuch schrieb ich am 30. Oktober 1962:

“Die Westpresse und die reaktionärsten Politiker sind sich alle im Lob Chruschtschows als des “Realisten”, der den Weltfrieden gerettet hat, einig. Diese Seite der Angelegenheit wirft die Frage auf, in welchem Maße die Kuba-Krise nicht überhaupt ein abgekartetes Spiel war, dazu bestimmt, die Welt durch die Aussicht eines Atomkrieges in Angst und Schrecken zu versetzen, um sie dazu bereit zu machen, den Friedensbringern auf den Knien zu danken. In dieser Hinsicht hat die ganze Geschichte verdammt viele Parallelen zu München! Es wird vorläufig in der SU sehr schwer sein (in der Parteiführung), gegen Chruschtschow aufzutreten, solange nicht die Ereignisse ihr Urteil gegen ihn gefällt haben.” Wenige Seiten weiter vermutete ich, was ich erst später durch Chruschtschow selbst, in seinen Erinnerungen, bestätigt fand: Chruschtschow, schrieb ich, “hat offenbar gegen den Aufbau sowjetischer Raketen in Kuba keinerlei Einwen-dungen erhoben; es würde durchaus in sein Konzept passen, wenn er sogar der treibende Teil bei der ganzen Angelegenheit gewesen wäre.” (Taubenfußchronik Bd. II, S. 371 f., S.378).

9.

Der Hintergrund, vor dem sich die Karibik-Krise ebenso wie die Berlin-Krise abspielte, war die zunehmende Unsicherheit der Position Chruschtschows an der Spitze von Partei und Staat, und das Interesse auch der Westmächte daran, Chruschtschow, den Stalin-Bekämpfer, und Ti-to-Rehabilitierer, den Mann, der mit dem roten China gebrochen hatte und seit Jahren die Versöhnung mit den USA betrieb, an der Macht zu halten. Wie aber sollte das geschehen? Durch unveränderte Fortführung dieser Politik, die zur Schwächung und Gefährdung seiner Position geführt hatte?

Nein, seine schon nach der ungarischen Konterrevolution erfolgreich angewandte Methode zur Festigung seiner erschütterten Position war es, sich zum eifrigsten und “radikalsten Vor-kämpfer” der in der Sowjetunion, in der kommunistischen Welt und in der damaligen Welt-friedensbewegung dringendsten und populärsten Forderungen aufzuspielen.

Das waren Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre zwei Forderungen:

– In Europa: die Beendigung der Rolle Westberlins als “Frontstadt” des kalten Krieges, als “Pfahl im Fleische der Deutschen Demokratischen Republik”, als “billigste Atombombe des Westens” gegen die Welt des Sozialismus.

– In Amerika: Die Sicherung Kubas vor einer USA-Intervention.

10.

Vor diesem Hintergrund spielte sich auch das “Gipfeltreffen” Kennedy – Chruschtschow in Wien am 3./4.Juni 1961 ab. Beide Fragen – Westberlin und Kuba – dürften bei diesem Treffen im Mittelpunkt gestanden haben, fand es doch statt etwa anderthalb Monate nach dem us-gesteuerten, aber schmählich gescheiterten Interventionsversuch von Exilkubanern in der Schweinebucht, und auf dem Höhepunkt der Krise um Westberlin, zehn Tage vor deren Be-endigung durch die Schließung der Grenzen der DDR nach Westberlin am 13. August 1961.

Dass die Frage Westberlin in Wien Gegenstand der Besprechung war, wurde durch das Me-morandum der UdSSR “Über die Frage des Abschlusses eines Friedensvertrages mit Deutschland und die Regelung des Westberlin-Problems” der Öffentlichkeit mitgeteilt. (Tau-benfußchronik II, S.285 ff.) Später wurde bekannt, dass damals Kennedy die Versicherung abgab, sich gegenüber der Grenzschließung auf verbale Proteste zu beschränken. Das heißt, er hatte Verständnis dafür, daß es Chruschtschow nicht länger möglich war, die Grenzschließung weiter hinauszuzögern.

Dagegen wurde nichts darüber mitgeteilt, ob auch Kuba Gegenstand der Besprechungen war. Doch spricht der ganze Ablauf der “Karibik-Krise” dafür, dass beide Seiten sich darauf geeinigt haben, dass, was immer in der nächsten Zeit sich dort abspielen würde, beide Gesprächsteil-nehmer alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um es nicht zu einem kriegerischen Zu-sammenstoß kommen zu lassen, wie zugespitzt und hochgespannt die Situation auch werden mochte. Das hieße, Kennedy hatte auch Verständnis dafür, dass Chruschtschow nicht umhin konnte, Entschlossenheit zum Schutz Kubas vor äußeren Angriffen zu demonstrieren.

Für die Annahme einer solchen Verständigung spricht Kennedys Weigerung während der ganzen Zeit der Kuba-Krise, der Forderung seiner Militärs nach bewaffnetem Einsatz nach-zukommen, selbst dann noch, als ein US-Spionageflugzeug am 27. Oktober über Kuba abge-schossen wurde, wobei der Pilot seinen Tod fand und die Militärs in Kennedy drangen, dies “mit vermehrten Einsätzen der Luftwaffe und sofortigen Bombardements der Raketenstellungen zu beantworten.” (Schäfer, S. 179).

Auch Chruschtschow erwähnt diesen Vorfall in seinen Erinnerungen und lobt dabei die Zu-rückhaltung Kennedys (S.499): “Wir machten uns Sorgen, dass die Amerikaner, sobald wir uns zurückzogen, zur Offensive übergehen konnten. Aber nein, der gesunde Menschenverstand behielt die Oberhand. Ihre Schiffe verließen die kubanischen Hoheitsgewässer, aber ihre Flugzeuge umkreisten weiterhin die Insel. Castro gab den Befehl, das Feuer zu eröffnen, und die Kubaner schossen ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug vom Typ U-2 ab. So wurde ein weiterer amerikanischer Spion – ebenso wie Gary Powers – von einer unserer Raketen he-runtergeholt. Der Vorfall rief wildes Geschrei hervor. Zuerst waren wir besorgt, ob Präsident Kennedy die Demütigung auch würde verdauen können. Glücklicherweise jedoch geschah nichts, außer dass die Amerikaner mit ihrer Propaganda unverschämter wurden als je zuvor.”.

11.

Der beiden erwähnten Forderungen – Beendigung der Rolle Westberlins als Störzentrum gegen die DDR und Sicherung Kubas gegen feindliche Interventionen – nahm sich Chruschtschow in einer Weise an, die in kürzester Frist zu einer Spannung zwischen der Sowjetunion und den USA führte, die – so sollte es der Weltöffentlichkeit scheinen und so empfand es diese auch – beide Supermächte an den Rand des Atomkrieges brachte. In beiden Fällen erreichte er das dadurch, dass er die gerechten Forderungen der eigenen Seite der Gegenseite in ultimativer oder provokativer Form präsentierte und ihr dadurch die Begründung dafür lieferte, in gleicher oder noch schärferer Weise zu antworten.

In beiden Fällen nützten Chruschtschows “Vorstöße” der Gegenseite mehr als der eigenen. Wenn dennoch die Gegenseite ihre Ziele nicht voll erreichte, dann war das in beiden Fällen nicht das Verdienst Chruschtschows. Wie das im “Fall Kuba” verlief, haben wir schon gesehen.

Im Falle Westberlin forderte er in einer Rede am 10. November 1958 überraschend die Westmächte auf, einen Friedensvertrag mit Deutschland abzuschließen, der auch den Vier-mächtestatus von Berlin beenden und den Abzug aller vier Mächte aus Berlin festlegen sollte. Westberlin würde eine Freie Stadt sein, und die Kontrolle aller Zugänge zu Westberlin würde die Sowjetunion in die Hände der DDR legen. Als Frist für die Unterzeichnung eines solche Friedensvertrages nannte er 6 Monate. Sollten die Westmächte bis dahin dem Abschluß des Friedensvertrages nicht zugestimmt haben, werde die Sowjetunion einen separaten Friedens-vertrag mit der DDR abschließen und ihr die Kontrolle über alle Zugangswege nach Westberlin übergeben..

Das sah nach einem engagierten Eintreten für die DDR aus. Das wäre es auch gewesen, wenn die SU tatsächlich nach sechs Monaten oder etwas später mit der DDR den angekündigten Friedensvertrag geschlossen hätte. Das hatte Chruschtschow im Ernst aber nie beabsichtigt, wie sein Handeln in den folgenden Jahren bewies: Chruschtschow fand immer wieder neue Gründe, die angekündigten Maßnahmen hinauszuschieben und einen neuen Termin anzukündigen. Jede dieser neuen Ankündigungen hatte für die DDR eine ganz böse Wirkung: sie löste jedesmal eine neue Welle der Republikflucht aus, schadete also in bedrohlicher Weise der DDR und nützte der Gegenseite. Dieses üble Spiel dauerte fast zwei Jahre, bis zur Grenzschließung am 13. August 1961, mit der – vor allem auf den Druck der Bruderparteien hin – der Verzögerungspolitik schließlich ein Ende bereitet wurde. (Ausführlich dazu: Taubenfußchronik II, S. 258-303.) Chruschtschow aber stellte sich dar als einer, der unermüdlich für die DDR und die Sicherung ihrer Grenzen gekämpft und dies schließlich auf friedlichem Wege erreicht habe.

Nicht anders Gorbatschow zu Beginn seines Weges, der über Jahre der Irreführung über seine wahren Absichten erst gegen Schluß erkennen ließ und es danach sogar offen aussprach, dass das Ziel seines Weges nicht nur die Preisgabe der DDR, sondern das Ende der Sowjetunion als sozialistischer Staat, die Liquidierung des Sozialismus in Europa und sogar in China war.

Erschienen in “offensiv – Zeitschrift für Frieden und Sozialismus” 4/06 (März – April 2006), S. 30-36
http://www.offen-siv.com/2006/06-04_Maerz-April.shtml#11