Zu den Sozialismusvorstellungen (November 2000)

Kurt Gossweiler

ZU DEN SOZIALISMUSVORSTELLUNGEN

Mit dem, was Willi Gerns zur Globalisierung ausgeführt hat, bin ich nicht nur sehr einver-standen, sondern möchte ausdrücklich sagen, dass ich davon viel profitiert habe. Wozu ich einige Worte verlieren möchte, das sind die Ausführungen über die Sozialismusvorstellungen im Dokument der DKP.

Es ist sehr zu begrüßen, dass die DKP in einer Zeit, da die zeitweiligen “Sieger der Geschichte“ laut und anhaltend tönen, dass der Sozialismus ein für alle Mal erledigt sei, mit einem Dokument an die Öffentlichkeit getreten ist, in dem die Notwendigkeit der Ablösung der bestehenden kapitalistischen menschenfeindlichen Ordnung durch eine sozialistische Ordnung begründet wird. Und es ist selbstverständlich, dass in einem solchen Dokument auch zum ersten Anlauf der Sozialismusverwirklichung und zu den Ursachen dafür Stellung genommen wird, dass es dem Staat gewordenen Sozialismus in der Sowjetunion und ihren europäischen Verbündeten nicht gelungen ist, sich zu behaupten.

Aber die Ursachenerklärung im Dokument der DKP hat nicht ohne Grund eine lebhafte Dis-kussion und nicht wenig kritische Einwände hervorgerufen. Ich habe meine kritischen Ein-wände gegen bestimmte Passagen des Dokumentes schon vor fast drei Jahren mündlich und schriftlich ausführlich dargelegt (1), deshalb will ich heute nur kurz zu zwei, drei Punkten einige Anmerkungen machen.

Sozialismus ohne Entwicklungen?

Zu Punkt eins: In den “Sozialismusvorstellungen” wird pauschal vom “realen Sozialismus” gesprochen, so, als ob er von Anfang bis Ende der Gleiche geblieben sei. Aber der Sozialismus hatte sowohl in der Sowjetunion wie auch in der Deutschen Demokratischen Republik und in den anderen sozialistischen Ländern eine Aufstiegs- und eine Abstiegsphase.

Es genügt deshalb nicht, zu fordern – wie das Genosse Gerns in seinem Referat tat -, ins Detail zu gehen, um die Ursachen der Niederlage herauszufinden; nein, genau so wichtig ist es, ins Detail zu gehen, um die Ursachen der Erfolge in der Aufstiegsphase herauszufinden, und die Ursachen dafür, dass von einem bestimmten Punkt an ein Umschwung zum Niedergang bis zur Niederlage erfolgte. Das ist leider auch im Dokument über die Sozialismusvorstellungen un-terblieben. Dabei hat Genosse Steigerwald in seinem Referat durchaus einen Hinweis gegeben, der helfen kann, den Zeitpunkt und die Ursache des Umschwungs festzumachen. Er hat nämlich mit allem Nachdruck unterstrichen, dass es keinen Reform-Weg, keinen reformistischen Weg zum Sozialismus gibt.

Das war auch in der KPdSU unangefochtene Grunderkenntnis bis zu dem Zeitpunkt, da Chruschtschow auf dem XX. Parteitag als revisionistische Konterbande den sozialdemokrati-schen Reformweg der Einführung des Sozialismus auf parlamentarischem Wege als eine “neue Erkenntnis dank der Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus” in die Programmatik der kommunistischen Weltbewegung einschleuste. In Wirklichkeit war das eine Verabschiedung von der Leninschen Imperialismus-Einschätzung und der Übergang von der Politik des prin-zipiellen Kampfes gegen den Imperialismus zu einer Politik der Aussöhnung mit dem und der Vertrauenswerbung für den Imperialismus, der nun für friedensfähig und zum natürlichen und unentbehrlichen Partner bei der Sicherung des Friedens erklärt wurde.

Eine gravierende Zäsur

Wer das bisher nicht mitbekommen hat der lese noch einmal in Chruschtschows Rechen-schaftsbericht an den XX. Parteitag im Teil 1 den Abschnitt “Über die Formen des Übergangs der verschiedenen Länder zum Sozialismus” nach, sowie seine Rede vor den Moskauern nach seiner Rückkehr aus den USA im September 1959, in der er den Präsidenten des USA-Imperialismus, der sechs Jahre zuvor Ethel und Julius Rosenberg auf den elektrischen Stahl geschickt hatte, in den höchsten Tönen lobte und als Mann darstellte, der das Vertrauen des ganzen amerikanischen Volkes genieße und an dessen Friedenswillen er nicht zweifle. (2)

Eine solch scharfe Wendung in der Politik der Sowjetunion vom Kampf gegen den Imperia-lismus hin zu der bei Chruschtschow noch durch starke Worte gegen den Imperialismus ver-brämten, bei Gorbatschow aber dann ganz offenkundig gewordenen Komplizenschaft mit dem Imperialismus, stellt eine so gravierende Zäsur in der Geschichte der Sowjetunion und damit in der Geschichte des sowjetisch beeinflussten Sozialismus dar, dass daran eine Analyse der Ur-sachen des Niedergangs und der Niederlage, die ernst genommen werden will, nicht vorbei gehen kann, woran das Dokument der DKP aber leider hartnäckig vorbeigeht.

Idealgemälde mit Mängelrügen…

Zu Punkt zwei: Die “Sozialismusvorstellungen” enthalten unter anderem eine sehr diskussi-onsbedürftige Mängel-Liste des “realen Sozialismus”, dem vor allem vorgeworfen wird, die “zivilisatorischen Errungenschaften” der kapitalistischen bürgerlichen Demokratie – deren Wert, richtiger: Unwert, für die Mehrheit der Bevölkerung uns Genosse Robert Steigerwald in seinem Referat sehr eindrucksvoll vor Augen führt – nicht übernommen und “dialektisch aufgehoben” zu haben.

Daraus wird folgerichtig geschlussfolgert: Der kommende Sozialismus wird sich vom gewe-senen Sozialismus unter anderem dadurch unterscheiden, dass er alles das, was am “realen Sozialismus” vermisst wurde, selbstverständlich aufweisen wird: Von der “Gewaltenteilung” bis hin zur Zulassung von “Oppositionsparteien”, “so weit sie auf dem Boden der Verfassung stehen”.

Es wird hier also etwas praktiziert, was Marx und Engels aus gutem Grunde stets unterlassen haben: eine Art Idealgemälde des Sozialismus zu entwerfen mit möglichst genauen Ausfüh-rungsbestimmungen darüber, mit welchen Institutionen gesichert werden soll, dass die Wirk-lichkeit stets dem ausgemalten Idealbild entspricht. Den Forderungen, die ihr damit an die Gestalter einer künftigen sozialistischen Gesellschaft stellt, hätte nicht nur ein Stalin, sondern auch ein Lenin nicht entsprochen, denn der hat immerhin die “Oppositionsparteien” der Men-schewiki und der Sozialrevolutionäre unterdrückt.

Die Bedingungen werden aber härter

Ich frage mich aber: Könnt ihr gewiss sein, dass die Konterrevolution im Falle einer neuerlichen Eroberung der Macht durch die Sozialisten und ihre Verbündeten denen so viel Spielraum lässt, um sich an eure Sozialismusvorstellungen halten zu können?

Müsste man nach allen Erfahrungen, die wir und die Menschen in der Sowjetunion und die Menschheit überhaupt mit dem Imperialismus in den zehn Jahren seit der Restauration des Kapitalismus in den ehemals sozialistischen Staaten gemacht haben, nicht eher davon ausgehen, dass die Gegenwehr der inzwischen über viel gefährlichere und wirkungsvollere Waffen zur Verteidigung ihrer Herrschaft verfügenden imperialistischen Bourgeoisie eher noch brutaler und heftiger sein wird als sie damals gegen die russische Revolution in den Jahren 1917 bis 1920 war?

Nach diesen Erfahrungen und nach den Erfahrungen mit einem Gorbatschow, der sich mit der Forderung nach “Demokratisierung des Sowjetsystems” an dessen Spitze arbeiten konnte mit keiner anderen Absicht als der – wie er inzwischen selbst bestätigt hat – , dieses System zu zerstören und die Sowjetunion in den Kreis der kapitalistischen Staaten zurückzuführen, nach solchen Erfahrungen muss nach meinem Dafürhalten in einem Dokument einer kommunisti-schen Partei über ihre Sozialismusvorstellungen unbedingt auch ein Passus enthalten sein, der besagt: Eine Grundbedingung der Verteidigung und der Entfaltung der sozialistischen Demo-kratie besteht darin, dass niemand eine Führungsposition in der Partei einnehmen oder behalten kann, der in deren Theorie und/oder Praxis von den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus abweichende Elemente bürgerlicher Ideologie und Politik einzuschleusen unternimmt (wie etwa mit einer Erklärung, die Politik der friedlichen Koexistenz sei keine Form des Klassenkampfes).

Fragen zum Begriff Opposition

Die Ausführungen über die Zulassung von Oppositionsparteien im künftigen Sozialismus werfen indessen auch noch andere Fragen auf: Was für eine Opposition ist da ins Auge gefasst?

Eine Opposition gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung? Eine solche Oppositionspartei wäre eindeutig eine konterrevolutionäre Partei. Wenn gemeint ist, auch solche Oppositions-parteien sollten im künftigen Sozialismus zugelassen werden, dann hätte man sich damit nicht nur von Lenin, sondern auch von Marxens Erkenntnis von der Notwendigkeit der Errichtung der Herrschaft der Arbeiterklasse, (in Marxens Worten: der Diktatur des Proletariats), verab-schiedet.

Wenn jedoch der Zusatz “so weit sie auf dem Boden der Verfassung stehen” besagen soll, dass für antisozialistische, also konterrevolutionäre Parteien kein Platz sein wird, dann ergibt sich die Frage: Wenn sie ebenfalls für den Sozialismus sind, warum und wogegen könnten dann zugelassene Oppositionsparteien eigentlich opponieren? Es bleibt dann doch nur das Opposi-tionsmotiv, die regierenden und den Sozialismus aufbauenden Parteien von der Macht zu ver-drängen, um sich an deren Stelle zu setzen – also die pure Konkurrenz.

Aber ein Sozialismus, in dem die Opposition die bestehende Ordnung erhalten, aber sich selbst an Stelle der regierenden Parteien an die Hebel der Macht bringen will, wäre kein Sozialismus, sondern eine schlechte Imitation des bürgerlichen Parlamentarismus.

Die Macht des Großkapitals kann nur in einem breiten Bündnis aller daran interessierten Klassen und Schichten und deren Parteien gebrochen werden. In diesem Kampf werden sich unvermeidlich die Kräfte der Revolution und jene der Konterrevolution immer deutlicher ge-genüberstehen. Um die Interessen der verschiedenen den Aufbau des Sozialismus bejahenden und am Aufbau des Sozialismus mitwirkenden Klassen und Schichten des Volkes zur Geltung zu bringen und gebührend zu berücksichtigen, bedarf es keiner “Opposition” sondern der Fortsetzung der Zusammenarbeit aller an der demokratischen Revolution beteiligten und an der Niederhaltung der Konterrevolution interessierten Klassen und Schichten und ihrer Parteien, also die Einbeziehung aller zur gemeinsamen Beratung und Beschlussfassung über die im Interesse des sozialistischen Aufbaus liegenden Maßnahmen und Planungen.

Bürgerliche Demokratie?

In welchen Formen dies erfolgen wird, das im Einzelnen heute schon festlegen zu wollen, ist ein müßiges Unterfangen. Aber die Formen und Institutionen, die dafür in den sozialistischen Ländern gefunden wurden, sollten dabei durchaus beachtet und studiert und auf ihre Vorzüge und Mängel hin geprüft werden. Das halte ich für viel dringender und nützlicher, als Anleihen bei Institutionen der bürgerlichen Demokratie zu nehmen, die, wie immer sie auch entstanden sein mögen, doch – wie uns Robert Steigerwald mit seinem Referat noch einmal so deutlich vor Augen geführt hat – der Verschleierung der Diktatur des Großkapitals dienen. Dieses sein Re-ferat bestätigt ein Lenin-Wort, dass nämlich die Diktatur des Proletariats tausend Mal demo-kratischer ist als die bürgerliche Demokratie. In der Tat: Die Diktatur des Kapitals in der Bundesrepublik ist trotz aller “zivilgesellschaftlicher Errungenschaften” diktatorischer, als es die politische Ordnung der DDR selbst in ihrer schlechtesten Verfassung in den letzten Jahren ihrer Existenz war.

Auch eine solche Feststellung gehört meines Erachtens in ein Dokument einer deutschen Kommunistischen Partei, in dem eine Bilanz der 40 Jahre Sozialismus auf deutschen Boden versucht wird.

Erschienen in “Neue Volksstimme (nvs)” 9/3 (69) Nov. 2000, S. 7-9

Anmerkungen:

(1) Kurt Gossweiler, Revisionismus in der kommunistischen Bewegung. Referat auf der “In-haltskonferenz der Linken- am 24./25. Januar 1998 in Köln zum Thema: Revisionismus, De-mokratischer Sozialismus, Sozialismuskonzeptionen, abgedruckt in: »Offensiv«, Heft 2/98, S. 14-35. Nachgedruckt zusammen mit den Referaten der Vertreterin der KP Griechenlands und dem Vertreter der Französischen KP in Heft 47 der Schriftenreihe der KPD (Berlin) unter dem Titel: Dr. Kurt Gossweiler, Anneke Ionnatou, Maurice Cukierman: Revisionismus in der Kommunistischen Bewegung, Berlin 1999.

(2) In: »Die Presse der Sowjetunion«, Nr. 118/1959, S.2655 ff. In Auszügen wiedergegeben bei: Kurt Gossweiler, Wider den Revisionismus, München 1997, S. 113ff