Der “Moderne Sozialismus” Gedanken zu 12 Thesen Gysis und seiner Denkwerkstatt (Oktober 1999)

Kurt Gossweiler

DER “MODERNE SOZIALISMUS” –
GEDANKEN ZU 12 THESEN GYSIS UND SEINER DENKWERKSTATT

Was ist aus Gysis neuem Papier über den “modernen Sozialismus” zu lernen?

1. Der “moderne Sozialismus” hat nichts mehr mit dem wissenschaftlichen Sozialismus zu tun, denn: der wissenschaftliche Sozialismus ist unmodern, weil klassenkämpferisch und antikapi-talistisch.

Der “moderne Sozialismus” kennt keine Klassen, keinen Klassenkampf und keinen Kapita-lismus mehr, der abzuschaffen wäre. Zu überwinden ist lediglich die Allmacht des Kapitals, die Dominanz der Kapitalverwertung (Thesen 1 und 5).

2. Der “moderne Sozialismus” hat auch kaum noch etwas zu tun mit dem “Demokratischen Sozialismus” des noch geltenden Programms der PDS, denn das enthält noch etliche Be-standteile des un-modernen klassenkämpferischen und antikapitalistischen wissenschaftlichen Sozialismus.

3. Der “moderne Sozialismus” verzichtet auf jede wissenschaftliche Analyse der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Er ist “modern”, weil er die gewohnten, verständlichen, aber dem Zeitgeist zuwiderlaufenden Begriffe des wissenschaftlichen Sozialismus verwirft und an ihrer Stelle die “modernen”, aber unverständlichen Begriffe und Fremdworte der gerade modischen Theorien bürgerlicher Soziologen und Ökonomen und ihrer “linken” Nachbeter übernimmt. Beispiele: Verworfen und außer Dienst gestellt ist z.B.: Kapitalismus. Allerdings nicht kon-sequent. Offenbar haben nicht alle Autoren, die an den Thesen mitgearbeitet haben, die alten, “unmodernen” Begriffe in gleicher Radikalität entsorgt. Der für die These 6 Verantwortliche hat immerhin in seinem Vokabular noch einen “fordistischen Kapitalismus” und in seiner Begriffswelt einen “sozial gebändigten Kapitalismus der Nachkriegszeit”.

Der “Gewinn an Modernität” wird geliefert durch die – inhaltlich in keiner Weise erklärten – Begriffe des “Fordismus” und des “fordistischen Wohlfahrtsstaates”.

Verworfen und außer Dienst gestellt ist die Kennzeichnung des Kapitalismus unseres Jahr-hunderts als Imperialismus. Dafür wird das Vokabular des “modernen Sozialismus” bereichert durch das für die PDS neu entdeckte “sozialdemokratische Zeitalter”, das zwar nicht definiert, dessen angebliche Errungenschaften aber in umso höheren Tönen gelobt werden.

4. Zu den eliminierten Begriffen und für den “modernen Sozialismus” unannehmbaren politi-schen Praktiken gehören Revolution und revolutionär. Der Weg, den der “moderne Sozialis-mus” zu den angestrebten Zielen weist, geht ausschließlich über Reformen. Der “moderne Sozialismus” hat also mit der Sozialdemokratie gemeinsam, dass er reformistisch ist.

5. Die “modernen Sozialisten” verteidigen den Reformismus der alten Sozialdemokratie gegen die Vorwürfe der “modernen”, neoliberalistischen Sozialdemokraten Schröder und Blair, ohne zu merken, dass sie selbst Schröder und Blair näher stehen als der von diesen kritisierten “alten” Sozialdemokratie. Die hat nämlich die so gepriesenen Errungenschaften unter anderem deshalb erzielt, weil sie zwar den politischen Kampf um die wirkliche Macht längst aufgegeben hat, nicht aber den Kampf um die Verteilung der von den Werktätigen geschaffenen Werte zwischen Unternehmern und Lohn- und Gehaltsempfängern, also auf diesem begrenzten Gebiet noch immer “Klassenkampf” führt.

Davon wollen die “modernen Sozialisten” nichts mehr wissen, heißt es doch in These 3: “Wichtige Strukturelemente des sozialdemokratischen Zeitalters blieben bisher erhalten. Diese können einerseits Reformen dadurch erschweren, dass berechtigte soziale Interessen noch in Formen vertreten werden, die der Vergangenheit angehören. Sie können andererseits Reformen aber auch erleichtern, weil die Möglichkeit besteht, vorhandene sozialstaatliche und korporatistische Institutionen für die neuen Aufgaben umzubauen.” Was anders kann wohl mit den Formen der Interessenwahrung, “die der Vergangenheit angehören” gemeint sein, als Ar-beitskämpfe, Streiks und Ausstände? Sie erschweren also nach Ansicht der “modernen Sozia-listen” Reformen. Ihr Reformismus ist noch “friedlicher” als selbst der der alten Sozialdemo-kratie. Ihr Reformismus setzt statt auf Arbeitskämpfe auf Herstellung sozialer Gerechtigkeit durch einen “neuen Gesellschaftsvertrag” (These 4).

6. Einen “neuen Gesellschaftsvertrag” propagiert Gysi nicht zum ersten Mal. Das tat er vor Jahren schon, als er die Partei aus Bayern her plötzlich mit seinem “Ingolstädter Manifest” überraschte, richtiger gesagt, überrumpelte.

Aber schon damals fragten sich einfache nachdenkliche Parteimitglieder und fragen es sich heute erst recht: Was heißt denn das – “Neuer Gesellschaftsvertrag”? Haben wir denn zur Zeit einen “alten Gesellschaftsvertrag”? Wer hat denn einen solchen wann und mit wem geschlos-sen? Und was ist eigentlich sein Inhalt? Wo kann man den nachlesen? Und wer soll denn den “neuen Gesellschaftsvertrag” mit wem schließen? Was soll denn dessen Inhalt sein? Vielleicht die Reformforderungen der 12 Thesen? Oder was sonst? In der Tat: Welche andere konkrete Wirkung kann eine solche Forderung nach einem “neuen Gesellschaftsvertrag” haben als die Erweckung und Verfestigung von Illusionen darüber, dass es möglich wäre, in dieser Gesell-schaft des real existierenden Kapitalismus durch Vertragsverhandlungen die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit durchzusetzen! Die Verbreitung und Verfestigung solcher Illusionen – also das Zurückfallen auf das Erkenntnisniveau der Väter des Utopischen Sozialismus – das kann doch wohl kein moderner Sozialismus sein?!

7. Nicht weniger fragwürdig ist die Aufnahme der Begriffsschöpfung vom “sozialdemokrati­schen Zeitalter” und seinen hoch gelobten Errungenschaften.

Die Linken in Deutschland haben in ihrer Erinnerung sehr zwiespältige Erfahrungen mit der Sozialdemokratie bewahrt, mehrheitlich sogar keineswegs erfreuliche: Das Stichwort Noske bedarf keiner weiteren Erläuterungen. Beim Stichwort Reichskanzler Hermann Müller erinnern sich die Älteren noch gut daran, dass der Kandidat der SPD, Hermann Müller, 1928 Kanzler wurde, weil die SPD einen glänzenden Wahlsieg errang, den sie vor allem ihrer Wahlparole: Kinderspeisung statt Panzerkreuzer! verdankte. Aber kaum war die Regierung Hermann Müller im Amte, beschloss sie, was sie vor den Wahlen so vehement abgelehnt hatte: den Bau des Panzerkreuzers A! (Wie man sieht, befindet sich der Kanzler Schröder trotz seiner Kritik an der Vor-Schröder-Sozialdemokratie fest in der Tradition des “sozialdemokratischen Zeitalters”, nach den Wahlen das Gegenteil dessen zu tun, was den Wählern vor den Wahlen versprochen wurde.) Stichwort Kurt Schumacher: der gab sich 1945/46 ultraradikal und erklärte den Sozi-alismus zur Tagesaufgabe; die KPD und die SED bezichtigte er des feigen Opportunismus, weil sie im Gegensatz zu ihm und der von ihm geführten SPD erklärten, auf der Tagesordnung in Deutschland stehe nicht die Errichtung des Sozialismus, sondern der Aufbau einer antifa-schistisch-demokratischen Ordnung. Als aber 1952 in der DDR die antifaschis-tisch-demokratische Ordnung in die Grundlegung des Sozialismus hinüberwuchs, war in der BRD mit tätiger Mithilfe der Schumacher-SPD längst wieder die alte imperialistische Herr-schaft jener Großbanken und Großkonzerne restauriert worden, die Hitler an die Macht ge-bracht hatten, damit er ihre Expansionsziele verwirkliche, und deren nächstes Expansionsziel nun die “Wiedervereinigung”, also die Liquidierung der sozialistischen DDR und die Wie-derherstellung Großdeutschlands in den Grenzen von 1937, war. Und die SPD teilte diese Zielsetzung und schuf sich in Gestalt ihres berüchtigten “Ostbüros” eigens ein Instrument zur Mithilfe bei der Unterminierung der DDR. Stichwort SPD Regierungspartei, Bundeskanzler Willi Brandt und Helmut Schmidt: Am Anfang stand das “mutige” Brandt-Wort von Mehr Demokratie wagen! Und dann folgten: Berufsverbote für Kommunisten, Notstandsgesetze und der berüchtigte Doppelbeschluss zur Raketenstationierung in der BRD!

8. Welchen Zeitraum umfasst denn eigentlich das sozialdemokratische Zeitalter? Und welches sind seine großen Errungenschaften? In These 2 wird hervorgehoben das “Maß an Produkti-vitätsentwicklung, Innovation und kulturellem Aufstieg breitester Schichten der Bevölkerung in den letzten 50 Jahren,” die erreicht worden seien, “gerade auch, weil sozialdemokratische Vorstellungen großen Einfluss hatten”.

Auffällig ist hier das Bemühen, der Sozialdemokratie “Errungenschaften” zugute zu schreiben, die – wie die Produktivitätssteigerung und die Innovation – mit der Sozialdemokratie genau so wenig zu tun haben wie die Tatsache, dass in diesem angeblich “sozialdemokratischen Zeitalter” an der Spitze der Produktivitätsentwicklung und der Innovation die USA standen.

Als Zeitraum dieses “sozialdemokratischen Zeitalters” werden die letzten 50 Jahre, also die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts benannt.

Offenbar haben die Verfasser der Thesen sich keine Übersicht darüber verschafft, wo sozial-demokratische Parteien wie lange an der Spitze von Regierungen standen, sonst wären sie nie auf die Idee gekommen, die letzten 50 Jahre als “sozialdemokratisches Zeitalter” ins Ge-schichtsbuch eingehen zu lassen; wenn wir die BRD nehmen, dann war die SPD seit 1949 ganze 16 Jahre an der Regierung beteiligt – von 1966 bis 1982 -, und ganze 13 Jahre führende Regierungspartei – von 1969 bis 1982. 37 Jahre von den 50 Jahren seit 1949 stand die CDU in Deutschland am Steuer! Auch in den anderen großen Staaten Westeuropas waren die konser-vativen Parteien ähnlich dominant.

Die Thesen führen als Segnungen des “fordistischen Wohlfahrtsstaates” und des sozialdemo-kratischen Einflusses weiter an “eine lange Phase der Prosperität, weitgehende Vollbeschäf-tigung, im Maße der Produktivitätsentwicklung steigende Arbeitseinkommen und an der all-gemeinen Lohnentwicklung orientierte Sozialleistungen im Alter, bei Krankheit, Berufsunfä-higkeit oder Arbeitslosigkeit”, – “ohne allerdings Armut je vollständig überwinden zu können”, fügen die Autoren immerhin einschränkend hinzu, setzen aber die Errungenschaftsliste gleich weiter fort: “Industrielle Massenproduktion industrieller Güter und private Massenkonsumtion waren hervorstechende Merkmale dieses Fordismus. Damit verbunden waren eine Ausweitung partizipatorischer Möglichkeiten – z.B. der betrieblichen Mitbestimmung – und der Emanzipa-tionschancen.” Zwar seien nicht alle, “aber auch nicht wenige Träume der Sozialdemokratie in Erfüllung” gegangen.

9. Die Verfasser lassen es nicht dabei bewenden, die Errungenschaften des “sozialdemokrati-schen Zeitalters” gebührend zu würdigen, sie zählen auch auf, wem es zu verdanken sei, “dass Institutionen entstanden, die den Interessen der Arbeiterschaft Geltung verschaffen konnten und das Prinzip des Kapitals partiell durch das Prinzip sozialer Partizipation ergänzten,” näm-lich: – “nicht nur, aber doch zuerst den Gewerkschaften”, dann – “der Sozialdemokratie”, weiter den – “sozialistischen Bewegungen und Parteien”, und erst nach diesen wird endlich doch auch noch erwähnt: – “sowie der Konkurrenz mit dem Staatssozialismus”. Nach der Rangordnung der Verfasser kommt diesem Faktor nur der untergeordnete letzte Platz zu. Aber merkwürdig: alle Institutionen, denen es den Verfassern zufolge in erster Linie zu verdanken sein soll, dass den Interessen der Arbeiterschaft in der Vergangenheit Geltung verschafft werden konnte, sind noch da, und nicht nur das: die Sozialdemokratie ist führende Regierungspartei, und zwar nicht zusammen mit der FDP oder gar der CDU, sondern mit den Grünen! Aber diese Institutionen vermochten exakt von dem Zeitpunkt an, an dem die “Konkurrenz mit dem Staatssozialismus” aufgehört hat und nichts mehr bewirken konnte, nicht nur nicht mehr, wie vorher, den Interessen der Arbeiterschaft Geltung zu verschaffen, nein, sie konnten nicht einmal verhindern, dass nun ein umgekehrter Prozeß des Abbaus der zu Zeiten der “Konkurrenz mit dem Staatssozialismus” durchgesetzten sozialen Errungenschaften begann, ein Abbau, der unter Schröder, Scharping und Eichel nicht nur nicht gebremst, sondern verschärft und beschleunigt wird. Ganz davon zu schweigen, dass zur neuesten Errungenschaft der deutschen Sozialdemokratie gehört, Deutschland endlich wieder in den Rang einer Krieg führenden Großmacht zurückgeführt zu haben! (Warum bloß haben die Verfasser dieses kaum erwähnt?)

10. Die Verfasser raten Schröder und Blair mahnend: “Anstatt auf die Errungenschaften des sozialdemokratischen Zeitalters nur herabzusehen, wie es Gerhard Schröder und Tony Blair tun, sollte versucht werden, sie grundlegend gewandelt in neue Gesellschaftsstrukturen einzu-bringen.” Wenn schon die – wie gezeigt, durchaus “ambivalenten” – “Errungenschaften des sozialdemokratischen Zeitalters” verdienen, dass man ihnen so achtungsvoll begegnet und ihre Bewahrung empfiehlt – um wievielmal mehr sollte das für Errungenschaften wie die folgenden gelten: – die Verwirklichung einer uralten bürgerlich-demokratischen Forderung nach Auftei-lung des Großgrundbesitzes durch eine Bodenreform, die das Land denen übergibt, die es bearbeiten, – die Vergesellschaftung der wichtigsten Produktionsmittel durch Enteignung der Großbanken und Großkonzerne, – die gesetzliche Verankerung der Gleichberechtigung der Frau im öffentlichen Leben, im Beruf und in der Familie, – die Beseitigung des Bildungsprivilegs, gleiche Bildungschancen für alle, – Verankerung des Rechtes auf Arbeit in der Verfassung, – gesetzliche Verankerung des Grundsatzes: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, – unentgeltliche Gesundheitsfürsorge für alle, ein Gesundheitswesen, das nur der Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit aller Bürger dient und nicht den Profiten der Pharmain-dustrie und bereicherungssüchtiger Ärzte, – konsequente Friedenspolitik.

Diese Aufzählung könnte noch aus den Bereichen Rechtsprechung, Gesetzgebung, Kultur, Wissenschaft usw. erheblich verlängert werden. Dies alles sind Errungenschaften, die nie und nirgends von regierenden sozialdemokratischen Parteien, so lange sie auch an der Spitze der Staatsmacht standen, verwirklicht wurden, soviel sie davon auch vor den Wahlen versprochen hatten. Verwirklicht waren sie in der Deutschen Demokratischen Republik.

Erinnern wir uns an Gysis oben zitierte Worte: “Anstatt auf die Errungenschaften nur herab-zusehen, sollte versucht werden, sie in neue Gesellschaftsstrukturen einzubringen.” Für die “modernen Sozialisten” gilt solch achtungsvolles Verhalten aber nur gegenüber der Sozial-demokratie. In Bezug auf die wahrhaft historischen Errungenschaften der DDR gilt etwas ganz anderes, nämlich das, was Gysi auf dem Berliner Parteitag im Januar 1999 in die Worte kleidete: “Wir wollen schonungslos und kritisch die Verhältnisse aufarbeiten, die es in der DDR gegeben hat.” Nicht weniger als viermal wiederholte er in seiner Parteitagsrede das Wörtchen “schonungslos”, wenn er auf die DDR zu sprechen kam. Was ist daraus über den “modernen Sozialismus” zu lernen? Der “moderne Sozialismus” schätzt und verteidigt nur solche Refor-men, die den Kapitalismus am Leben lassen. Dagegen hält er für Reformen, die dem Kapita-lismus den Boden entziehen und die alten sozialistischen Forderungen verwirklichen, “scho-nungslose Kritik” für notwendig.

Ist es verwunderlich, wenn manche Leute daraus folgern, der “moderne Sozialismus” sei pro-kapitalistisch und antisozialistisch?

11. Wer erwartet hat, in den 12 Thesen Aufschluss darüber zu erhalten, was er unter dem “modernen Sozialismus” zu verstehen hat, sieht sich arg enttäuscht. Er findet nichts dergleichen. Handfeste realistische Aussagen findet er nur dort, wo die in der BRD herrschende schreiende soziale Ungerechtigkeit mit Zahlen belegt wird (in These 11). Was jedoch den Hauptbestandteil der 12 Thesen betrifft, so hinterlässt er weithin den Eindruck eines illusionären reformistischen Wunschzettelkatalogs zur “humanen” Umgestaltung des real existierenden Kapitalismus.

Dabei fällt auf, dass die Verfasser nicht nur die Realitäten, sondern hin und wieder auch die Gesetze der Logik außer acht lassen. Dafür nur ein einziges Beispiel: Die These 3 wird so eingeleitet: “Die Ära neoliberaler Zerstörung des Nachkriegssystems sollte … durch eine Epoche moderner sozialistischer Politik abgelöst werden.” (Ging es nicht etwas billiger als gleich mit einer ganzen “Epoche”?) In These 4 wird festgestellt: “Soziale Gerechtigkeit ist die soziale Grundbedingung für eine dauerhafte, wirklich moderne Politik.” Es drängen sich nach diesen Aussagen gleich mehrere Fragen auf: Was ist “wirklich moderne Politik” und wodurch unterscheidet sie sich von “moderner sozialistischer Politik”? Was macht eigentlich Politik “modern”? Was ist Merkmal und Inhalt von “Modernität”? Und zum anderen: Wenn die “so-ziale Grundbedingung” für “wirklich moderne Politik” “soziale Gerechtigkeit” ist, dann ist eine solche Politik in der bestehenden Ordnung überhaupt unmöglich, weil ihr die “soziale Grundbedingung” fehlt. Aber vermutlich wollten die Verfasser etwas ganz anderes sagen, nämlich etwa etwas wie dieses: “Das oberste Ziel ‘moderner Politik’ muss die Erringung sozialer Gerechtigkeit sein.” Wie dem aber auch sein mag: Eindeutigkeit, Verständlichkeit, präzise Begriffe und logische Folgerichtigkeit sind etwas, was man bei fast jeder einzelnen dieser Thesen schmerzlich vermisst. Wo etwa ist letztere bei dem Folgenden zu finden?: “Soziale Gerechtigkeit … darf nicht auf individuelle Fairness reduziert, die sozialen Grundlagen indi-vidueller Leistung dürfen nicht ignoriert werden. Der demokratische Sozialismus setzt deshalb auf einen neuen Gesellschaftsvertrag.” – “Deshalb”? Ein “Neuer Gesellschaftsvertrag” soll also echte soziale Gerechtigkeit garantieren? Als Jean Jaques Rousseau im 18. Jahrhundert seine Lehre vom “contrat social” entwickelte, da war diese Idee vom Gesellschaftsvertrag, obwohl illusionär, dennoch modern, weil revolutionär, gegen die herrschende Klasse zielend. Aber heute, am Ende des 20. und an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, nach der Entdeckung der Spaltung der kapitalistischen wie jeder Ausbeutergesellschaft in antagonistische Klassen, ist sie keineswegs modern, sondern darauf gerichtet, an die Stelle des Kampfes zur Beseitigung der Herrschaft des Kapitals die Aushandlung eines neuen Klassenkompromisses zu setzen. Will man das als “modern” bezeichnen, dann trifft das höchstens in dem Sinne zu, an den Otto Köhler in seinem Gastkommentar im “Neuen Deutschland” vom 7./8. August 99 erinnerte: “Man kann übrigens das Wort ‘modern’ auch auf der ersten Silbe betonen, um zu erkennen, was in diesem Lande vor sich geht”.

Karl Marx jedenfalls hat schon vor über 100 Jahren im 1. Band seines “Kapital” vom “contrat social” festgestellt, dessen Reich sei das Traumreich. (MEW, Bd. 23, S. 795).

12. Wahr ist: In These 5 finden sich Passagen, die die Hoffnung aufkeimen lassen, die Verfasser setzten nicht nur auf den “neuen Gesellschaftsvertrag”, sondern stellten auch die Machtfrage. So etwa, wenn festgestellt wird: “Die Allmacht des organisierten Kapitals zieht die Ohnmacht der Politik gegenüber der Wirtschaft zwangsläufig nach sich. Die so genannten Sachzwänge sind vor allem Zwänge, die sich aus der Übermacht der einen und der relativen Machtlosigkeit der anderen ergeben. Ohne die Veränderung der Machtverhältnisse in der Wirtschaft wird aus einem ‘Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit’ ein Zwangsvertrag zur Meistbegünstigung von Großunternehmen werden, mit Sozialabbau, aber auch einigen sozialen Zugeständnissen, die eher im Gnadenweg gewährt werden.” Wahr ist ferner, dass in These 5 von der Notwendigkeit organisierter Gegenmächte zur bewussten Gestaltung sozialer Verhältnisse die Rede ist.

Wie aber sollen diese Gegenmächte die Allmacht des Kapitals beseitigen? Eine schwierige Frage offenbar, denn: “Eine gemeinwohlorientierte Entwicklung kann nur aus der Institutionalisierung ökologischer und sozialer Gegenmächte gegenüber der Macht bloßer Kapitalverwertung … erfolgen.” Zu ihrer “Institutionalisierung” bedürfen die “Gegenmächte” jedoch der Akzeptanz durch die Behörden, also durch die bestehende Staatsmacht. Sie sind also “Gegenmächte” von Staates Gnaden, wenn sie sich ihre “Institutionalisierung” nicht notfalls auch gegen die staatlichen Vorschriften, also auf revolutionärem Wege, erkämpfen wollen. Derartiges ist aber in den Thesen nirgends vorgesehen. Das allmächtige Kapital hat also keinen Grund, solcherart institutionalisierte “Gegenmächte” zu fürchten. Zur Beseitigung der Allmacht des Kapitals wird weiter als notwendig genannt: “So wie im politischen System die Gewaltenteilung eine Bedingung für Demokratie ist, so ist die Teilung von ökonomischer Macht Bedingung einer sozialen und ökologischen Wirtschaftsordnung.” Wer aber soll gegen die Allmacht des Kapitals die “Teilung der ökonomischen Macht” durchsetzen? Wo doch gilt: “Wer machtlos ist, hat keine Verhandlungsmacht und ist kein Partner.” Mit diesem Satz ist endlich eindeutig klargestellt, dass in der These 5 keineswegs die Machtfrage im alten Sinne der Beseitigung der kapitalistischen Ordnung gestellt ist; nicht um wirkliche Macht geht es, sondern um “Verhandlungsmacht” und Anerkennung als Verhandlungspartner, also um die endliche Anerkennung als “ganz normale Partei” im Rahmen des gegebenen imperialistischen deutschen Staates. Folgerichtig endet der letzte Satz der These 5 mit einer Unterstreichung der Rolle von Staat und Recht für die Ermöglichung und Förderung positiver Entwicklungen: “Eine moderne Linke muss zivilgesellschaftliche Selbstorganisation und Interessenvertretung fördern, zu ihrer Vernetzung beitragen und ihre Angebote auf der Suche nach einem neuen Entwicklungspfad politisch aufgreifen. Staat und Recht gewinnen gerade in dem Maße an Bedeutung, in dem sie ordnend solche Entwicklungen ermöglichen und fördern.” Es zeigt sich also: Die “Machtfrage” wird in den Gysi-Thesen genau so gestellt, wie sie von den Reformisten von deren erstem Auftreten an gestellt wurde: die Reformisten traten immer als Ratgeber auf, die besser als die herrschenden Bourgeois wissen, was zu tun ist, um die bestehende Herrschaft vor den Risiken sozialer Konflikte zu bewahren; und sie suchen die Herrschenden davon zu überzeugen, dass es in deren ureigenstem Interesse liegt, dieses Programm zu übernehmen und seinen Erfindern als Minister die Möglichkeit zu geben, es in die Wirklichkeit umzusetzen. Ein derartiger Sozialismus wird bereits im Kommunistischen Manifest aufgeführt unter der Überschrift: Der konservative oder Bourgeoissozialismus. Der Name bezeichnet weniger die soziale Stellung seiner Vertreter, als die Tatsache, dass er darauf abzielt, die bürgerliche Gesellschaft zu erhalten. Dieser “Sozialismus” wird im Manifest so beschrieben: “Ein Teil der Bourgeoisie wünscht den sozialen Missständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Es gehören hierher: Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, … Die sozialistischen Bourgeois wollen die Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft ohne die notwendig daraus hervorgehenden Kämpfe und Gefahren. Sie wollen die bestehende Gesellschaft mit Abzug der sie revolutionierenden und sie auflösenden Elemente. Sie wollen die Bourgeoisie ohne das Prole-tariat. Die Bourgeoisie stellt sich die Welt, worin sie herrscht, natürlich als die beste Welt vor. Der Bourgeoissozialismus arbeitet die tröstliche Vorstellung zu einem halben oder ganzen System aus.

Wenn er das Proletariat auffordert, seine Systeme zu verwirklichen, … so verlangt er im Grunde nur, dass es in der jetzigen Gesellschaft stehen bleibe, aber seine gehässige Vorstellung von derselben abstreife.”

Wer aus den umfangreichen 12 Gysi-Thesen deren Kerngehalt herausdestilliert, wird bei dessen Vergleich mit den zitierten Ausführungen zu seiner Überraschung feststellen können, wie genau Marx und Engels schon vor über 150 Jahren den Kerngehalt des “modernen Sozialismus” beschrieben haben. Das erlaubt die abschließende Kennzeichnung: Der “moderne Sozialismus” der Zwölf Thesen ist seinem Kerngehalt nach der “modernisierte Bourgeoissozialismus” des Kommunistischen Manifests.

13. Wer sich der Mühe unterzogen hat, sich bis zur letzten der zähen, schwer verdaulichen Thesen hin durchzubeißen, dem drängt sich am Ende unvermeidlich die Frage auf, was diese Thesen eigentlich sollen und für wen sie eigentlich geschrieben wurden? Mit Sicherheit nicht für die Genossen an der Basis! Denn dann hätte man sich der normalen deutschen Sprache und nicht einer einem Drahtverhau für das Verständnis ähnlichen Intellektuellensprache bedienen müssen, und dann wären sie wohl auch nicht zuerst im “Spiegel”, sondern in einem Partei- oder parteinahen Medium zu lesen gewesen. Einen Hinweis darauf, was der Sinn und Zweck der Gysi-Thesen ist, hat alsbald nach deren Veröffentlichung der Parteivorsitzende, Genosse Bisky, gegeben, als er sagte, sie seien ein “substantiell inhaltlicher Beitrag” zur Programmdiskussion. Daraus darf geschlossen werden, dass die Gysi-Thesen dazu bestimmt sind, im Vorfeld des Parteitages die Programmdiskussion erneut und wirkungsvoller in die bereits von dem wenig beachteten “Kommentar” zum Parteiprogramm vorgegebene Richtung zu lenken.

Die auffälligsten Besonderheiten der Thesen, wie etwa, dass – im Kontrast zu ihrem gesamten Inhalt gleich in der Präambel und in These 1 eine Berufung auf Karl Marx erfolgt (bei der Karl Marx allerdings bedenkenlos verfälscht wird), – das angebliche “sozialdemokratische Zeitalter” hoch gelobt wird, – im Gegensatz dazu die “moderne Sozialdemokratie” des Schrö-der-Blair-Papiers attackiert wird, erklären sich aus der aktuellen Situation zum Zeitpunkt der Thesenveröffentlichung: aus

– der Notwendigkeit, den noch am Marxismus festhaltenden nicht unbeträchtlichen Teil der Mitglieder und Wähler bei der Stange zu halten,

– der tiefen Enttäuschung großer Teile der Mitglieder und Wähler von SPD und Grünen über die Politik der Schröder-Fischer-Regierung,

– der daraus resultierenden Hoffnung, bei den bevorstehenden Landtagswahlen einen großen Teil dieser Wähler für die PDS gewinnen zu können, wenn diese deutlich macht, den von der SPD durch Schröders Rechtsbewegung frei gewordenen Platz in der “linken Mitte” zu besetzen,

– der Aussicht, bei beträchtlichen Stimmengewinnen für die PDS Möglichkeiten für Neuauf-lagen entweder des Magdeburger Tolerierungs – oder gar des Schweriner Mitregierungs-Modells in weiteren Ländern zu bekommen, – der Notwendigkeit, die Regierungsfähigkeit und -würdigkeit der PDS durch eine unbezweifelbare Absage an den “unmodernen” klassenkämpferischen Sozialismus unter Beweis zu stellen.

Was ist abschließend zu den Gysi-Thesen zu sagen? Alle, die wollen, dass jegliche Versuche entschieden abgewiesen werden, aus der PDS eine zweite, “bessere” SPD zu machen, haben Grund, den Thesen-Verfassern dankbar zu sein: haben diese ihnen doch mit den Thesen vor Augen geführt, dass der PDS auf dem kommenden Parteitag eben dieser Umbau droht, wenn nicht im ganzen Lande bis zum Parteitag von der Parteibasis bis in den Parteivorstand hinein ein unüberhörbares, nicht weg zu taktierendes NEIN zu den Thesen, zu diesem Schrö-der-Blair-Papier der PDS, ständig lauter und machtvoller ertönt.

Veröffentlicht in “Mitteilungen der Kommunistischen Plattform in der PDS” 10/99, S.14ff., danach in “Weißenseer Blätter” 4/1999