Eine neue Sicht zur Sowjetischen Außenpolitik? Anmerkungen zu einem Beitrag von Ernst Hoffmann (ICARUS 1/96) (Anfang 1996)

Eine neue Sicht zur Sowjetischen Außenpolitik? Anmerkungen zu einem Beitrag von Ernst Hoffmann (ICARUS 1/96) (Anfang 1996)

Eine neue Sicht zur sowjetischen Außenpolitik?
Anmerkungen zu einem Beitrag von Ernst Hoffmann (ICARUS 1/96)


Ernst Hoffmanns Aufsatz ist ein Versuch der Anwendung der Widerspruchsdialektik als Schlüssel zur Erklärung dessen, was er uns als Widerspruch der sowjetischen Außenpolitik vorführt. Aber zeichnet er uns auch tatsächlich ein wirklichkeitsgetreues Abbild dieser Außenpolitik? Sehen wir uns das einmal näher an. Der Autor trifft die Feststellung: “Seit der Deformierung der sowjetischen Außenpolitik im März 1939 durchlief die Deutschlandpolitik der Sowjetunion drei Hauptperioden.”

Diese drei Hauptperioden werden nicht näher charakterisiert, sondern es wird dem Leser überlassen, sich anhand der ihren Anfangs- und Endpunkt markierenden Ereignisse das Wesen der drei Hauptperioden selber herauszufinden: “Die Hauptwendepunkte in dieser Politik” – also der Deutschlandpolitik der Sowjetunion – “waren:

  • 15. bis 23.8.1939: Verhandlungen mit Hitlerdeutschland, die zum Abschluss des Nichtangriffspaktes und der geheimen Zusatzabkommen führten;
  • 22.6.1941: Verteidigungskrieg gegen den Überfall Hitlerdeutschlands;
  • 20.3. bis 24.4.1947: Außenministerkonferenz der USA, Großbritanniens und der UdSSR in Moskau: Molotow schlägt gesamtdeutsche Wahlen vor, die die Konzeption eines neutralen bürgerlichen Gesamtdeutschlands zum Ausdruck brachten;
  • 15.7.1990: In Geheimverhandlungen mit Bundeskanzler Kohl stimmt Gorbatschow der Einbeziehung auch der DDR in die NATO zu.”

Die Willkürlichkeit und Künstlichkeit einer solchen Einteilung springt ins Auge:

  • Kein “Hauptwendepunkt” ist der 8. Mai 1945, der Sieg der Sowjetunion und der Anti-Hitlerkoalition über das faschistische Deutschland und die neue Rolle der Sowjetunion als eine der vier Besatzungsmächte, welche die faktische Regierung Deutschlands darstellten;
  • kein “Hauptwendepunkt” ist das Ende der Isolation der Sowjetunion als alleiniger, vom Imperialismus rundum eingekreister sozialistischer Staat und das Entstehen einer sozialistischen Staatengemeinschaft, in welche die SBZ/DDR immer stärker integriert wird;
  • kein “Hauptwendepunkt” ist die Gründung der DDR – nach dem bekannten Ausspruch Stalins immerhin “ein Wendepunkt in der Geschichte Europas”;
  • kein “Hauptwendepunkt” in der Deutschlandpolitik der Sowjetunion ist der Machtantritt Chruschtschows und die Neuorientierung der sowjetischen Innen- und Außenpolitik auf dem 20. Parteitag

Nein, es gibt bei Ernst Hoffmann zwischen 1947 und 1990 keinen einzigen “Hauptwendepunkt” mehr, für ihn ist die Zeit von Stalin über Chruschtschow und Breschnew bis zum Verkauf der DDR an die BRD durch Gorbatschow eine einzige Hauptperiode der Deutschlandpolitik der Sowjetunion!

Nicht weniger willkürlich als seine Einteilung von drei “Hauptperioden der Deutschlandpolitik der Sowjetunion” ist Ernst Hoffmanns Behauptung, der 18. Parteitag der KPdSU im März 1939 markiere den Einschnitt, von dem ab die sowjetische Außenpolitik ihren sozialistischen Charakter partiell verloren habe. Begründet wird diese Ansicht mit der Behauptung, Stalin habe im außenpolitischen Teil seines Rechenschaftsberichtes an den Parteitag den “Hauptstoß nicht gegen das faschistische Deutschland, sondern in einseitiger Weise gegen den britischen Imperialismus” gerichtet. Wenn ich es nicht besser wüsste, müsste ich nach einer solchen Feststellung zu dem Schluss kommen, Ernst Hoffmann habe diesen Rechenschaftsbericht nie selbst gelesen. Aber mit Sicherheit hat er sich nicht die Mühe gemacht, ihn vor Abfassung dieses Artikels noch einmal zur Hand zu nehmen.

Holen wir das also nach und zitieren wir die Passagen aus dem Rechenschaftsbericht, die sich mit dem faschistischen Deutschland und mit dem britischen Imperialismus befassen: “Die drei aggressiven Staaten und der von ihnen begonnene neue imperialistische Krieg haben … dieses gesamte Friedensregime der Nachkriegszeit über den Haufen geworfen. Japan hat den Neunmächtepakt, Deutschland und Italien haben den Versailler Vertrag zerrissen. Um frei Hand zu bekommen, sind alle diese drei Staaten aus dem Völkerbund ausgetreten. … In unseren Zeiten ist es nicht so leicht, sich mit einem Male von der Kette loszureißen und sich geradewegs in den Krieg zu stürzen, ohne auf Verträge verschiedener Art und auf die öffentliche Meinung Rücksicht zu nehmen. Den bürgerlichen Politikern ist dies sehr wohl bekannt. Auch den faschistischen Machthabern ist das bekannt. Daher entschlossen sich die faschistischen Machthaber, bevor sie sich in den Krieg stürzten, die öffentliche Meinung in bestimmter Weise zu bearbeiteten, d. h. sie irrezuführen, sie zu betrügen … Ein Krieg gegen die Interessen Englands, Frankreichs, der USA? Unsinn! “Wir” führen Krieg gegen die Komintern und nicht gegen diese Staaten … So gedachten die Herren Aggressoren, die öffentliche Meinung zu bearbeiteten … Aber der Krieg ist unerbittlich. Man kann ihn hinter keinerlei Kulissen verstecken … nicht verstecken lässt sich die Tatsache, dass Japan während dieser Zeit ein gewaltiges Gebiet Chinas, Italien Abessinien, Deutschland Österreich und das Sudetengebiet, Deutschland und Italien gemeinsam Spanien an sich gerissen haben, all dies entgegen den Interessen der nichtaggressiven Staaten. Der Krieg blieb Krieg, der Kriegsblock der Aggressoren blieb ein Kriegsblock, und die Aggressoren blieben Aggressoren.

… Der Krieg wird von den aggressiven Staaten geführt, die die Interessen der nichtaggressiven Staaten, vor allem Englands, Frankreichs und der USA, in jeder Weise schädigen; die letzteren weichen jedoch zurück, machen den Aggressoren ein Zugeständnis nach dem anderen … Wodurch ist dieser einseitige und seltsame Charakter des neuen imperialistischen Krieges zu erklären? … Die wichtigste Ursache besteht darin, dass sich die meisten nichtaggressiven Länder, und vor allem England und Frankreich, von der Politik der kollektiven Sicherheit, von der Politik der kollektiven Abwehr der Aggressoren losgesagt haben, dass sie die Position der Nichteinmischung, die Position der “Neutralität” bezogen haben. … In Wirklichkeit bedeutet … die Politik der Nichteinmischung eine Begünstigung der Aggression, die Entfesselung des Krieges und folglich seine Umwandlung in einen Weltkrieg. In der Politik der Nichteinmischung macht sich das Bestreben … geltend, die Aggressoren bei der Ausführung ihres dunklen Werkes nicht zu hindern, zum Beispiel Japan nicht zu hindern, sich in einen Krieg gegen China, noch besser aber gegen die Sowjetunion einzulassen, zum Beispiel Deutschland nicht zu hindern, … sich in einen Krieg gegen die Sowjetunion einzulassen, alle Kriegsteilnehmer tief in den Morast des Krieges versinken zu lassen, … sie dazu zu bringen, dass sie einander schwächen und erschöpfen, dann aber, wenn sie genügend geschwächt sind, mit frischen Kräften auf dem Schauplatz zu erscheinen und natürlich “im Interesse des Friedens” aufzutreten, um den geschwächten Kriegsteilnehmern die Bedingungen zu diktieren. … Ich bin weit davon entfernt, über die Nichteinmischungspolitik zu moralisieren, von Verrat, von Treuebruch und dergleichen zu sprechen … Politik ist Politik, wie die alten durchtriebenen bürgerlichen Diplomaten sagen. Es ist jedoch notwendig zu bemerken, dass das große und gefährliche politische Spiel, das die Anhänger der Nichteinmischungspolitik begonnen haben, für sie mit einem ernsten Fiasko enden kann.” [J. Stalin: Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU(B) am 10. März 1939. Berlin: Dietz 1949, S. 9-15]

So gerne ich über einen Beitrag Ernst Hoffmanns zur Geschichtsdebatte nur Lobendes sagen würde, so sehr bedaure ich, dies über seinen hier besprochenen nicht tun zu können.

Immerhin, die Frage nach Hauptperioden der sowjetischen Außenpolitik, nachdem sie von Ernst Hoffmann nun einmal in die Debatte geworfen wurde, ist schon wert, weiter diskutiert zu werden.

Seit Marx und Engels ist das entscheidende Kriterium zur Beurteilung proletarischer bzw. sozialistischer Politik das Verhalten gegenüber der eigenen Klasse auf der einen, zum Klassengegner auf der anderen Seite. Lege ich dieses entscheidende Kriterium einer Untersuchung der sowjetischen Außenpolitik zugrunde, also ihr Verhalten zu den Bruderländern und -parteien zum einen, zum Imperialismus zum anderen, dann gelange ich zunächst zu dem Ergebnis, zwei Hauptperioden sowjetischer Außenpolitik klar unterscheiden zu können.

Die erste Periode reicht von der Gründung des Sowjetstaates bis zum 20. Parteitag. Ihr Hauptmerkmal ist, dass die Außenpolitik unveränderlich darauf abzielt, den ersten proletarischen Staat der Welt zum Stützpunkt der antiimperialistischen, sozialistischen weltrevolutionären Bewegung auszubauen, zu festigen und zu stärken. Das erforderte den ständigen Kampf um die Einheit der kommunistischen Bewegung auf der Grundlage der Lehren von Marx und Lenin im eigenen Lager, die Verhinderung des Zustandekommens einer imperialistischen Einheitsfront gegen die Sowjetunion durch aktive Politik zur Ausnutzung der Gegensätze im Lager des Imperialismus.

Dabei spielte die Ausnutzung der imperialistischen Gegensätze zwischen den Siegermächten des ersten Weltkrieges und den Besiegten, insbesondere Deutschland, eine zentrale Rolle:

  • 1918: Abschluss des Brester Friedensvertrages mit dem kaiserlichen Deutschland. Von Lenins innerparteilichen Gegnern als Hilfestellung für den deutschen Imperialismus, als Komplizenschaft mit ihm gegen die Westmächte denunziert.
  • 1922: Abschluss des Rapallo-Vertrages.In dessen Gefolge Aufnahme einer Zusammenarbeit Rote Armee – Reichswehr.
  • 1934: Nach dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund – Eintritt der Sowjetunion in den Völkerbund.
  • 1935: Abschluss eines Bündnisvertrages der Sowjetunion mit dem (imperialistischen) Frankreich und mit der Tschechoslowakei.
  • 1936-39: Die Sowjetunion hilft als einziger Staat der spanischen Republik, sich gegen die faschistische Intervention Deutschlands und Italiens zu verteidigen.
  • 1938: Die Sowjetunion erklärt – im Gegensatz zu Frankreich – der bedrohten Tschechoslowakei, ihren Bündnisverpflichtungen nachzukommen, falls die CSR sich gegen einen Angriff Hitlerdeutschlands zur Wehr setzt. Die Westmächte zwingen die CSR zur Kapitulation, liefern Hitler im Münchener Abkommen die westlichen Grenzgebiete der CSR aus.
  • Frühjahr 1939: Trotz München verhandelt die Sowjetunion mit England und Frankreich, um den Abschluß eines Systems kollektiver Sicherheit gegen die drohende Aggression Nazideutschlands zustande zu bringen. Diese Bemühungen scheitern an deren Weigerung, die gleichen Verpflichtungen zur Hilfeleistung zu übernehmen, wie sie sie von der Sowjetunion verlangen.
  • 23.8.1939: Die Sowjetunion durchkreuzt die antisowjetischen Intrigen der Westmächte durch die Annahme des deutschen Angebotes zum Abschluss eines Nichtangriffsvertrages.

Der Nichtangriffsvertrag ist in Wahrheit die Grundsteinlegung für die Anti-Hitlerkoalition. Nur weil Hitler den ersten Schlag nicht gegen die Sowjetunion, sondern gegen die Westmächte bzw. ihren Verbündeten Polen führte, wurden sie in den Krieg gegen das faschistische Deutschland gezwungen und damit nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion zu deren Bundesgenossen.

Die Außenpolitik der Sowjetunion hat, weil sie bis 1953/55 strikt den Leninschen Grundsätzen folgte, zwei scheinbar unvereinbare Aufgaben gelöst, von denen jede schon für sich genommen den Zeitgenossen als nahezu unlösbar erschien: sie wich in keiner Situation von der Linie ab, bei allem, was sie tat, auf die Stärkung der Kräfte des Sozialismus und des Antiimperialismus und auf die Schwächung des Imperialismus hinzuarbeiten. Dabei gab es Rückschläge – aber 1945 hatte diese Politik dazu geführt, dass das Kräfteverhältnis sich in vorher unvorstellbarer Weise zugunsten des Sozialismus verändert hatte.

Und diese Politik hat trotz – in Wahrheit gerade wegen – dieser ihrer konsequent antiimperialistischen, von jeder Illusion über das Wesen des Imperialismus freien Linie das wichtigste Bündnis dieses Jahrhunderts mit den stärksten imperialistischen Mächten zustande gebracht – die Anti-Hitlerkoalition: mehr noch, die SU hat erreicht, dass trotz aller Versuche, hinter ihrem Rücken zu einem Separatfrieden mit Nazideutschland zu gelangen, dieses Bündnis bis zum völligen Sieg über den Faschismus und darüber hinaus erhalten blieb, und sie hat erreicht, dass in dieser Koalition der drei imperialistischen Hauptmärkte mit dem einzigen sozialistischen Staat dieser nicht majorisiert und seine Macht beschnitten wurde, sondern dass die imperialistischen Mächte nicht umhin konnten, ihm einen erstrangigen Einfluss auf die Gestaltung der Nachkriegsordnung – man denke nur an seinen Anteil an der Gründung und Ausgestaltung der Vereinten Nationen – einzuräumen.

Die zweite Hauptperiode setzte spätestens 1956 mit dem 20. Parteitag ein. Ihr wesentliches Kennzeichen war die Umkehrung des bisherigen Verhältnisses zum Imperialismus und zum eigenen Lager.

Gegenüber dem Imperialismus trat bereits bei Chruschtschow an die Stelle einer Politik des prinzipiellen Klassenantagonismus eine Politik des Abbaus der Konfrontation durch Zurückweichen und Propagierung des Vertrauens zu den Friedensbeteuerungen der imperialistischen Mächte mit den USA an der Spitze, eine Politik, deren Wesen als Absage an die Prinzipien des Marxismus-Leninismus unter Gorbatschow vollends offenbar wurde, zunächst mit der Erklärung, die Sowjetunion betrachte die Politik der friedlichen Koexistenz nicht mehr als eine Form des Klassenkampfes, sondern als eine Politik des gemeinsamen Eintretens beider Seiten für die “allgemein menschlichen Interessen”, zum Schluss durch die Selbstentlarvung der “Perestroika” als einer Politik der Restauration des Kapitalismus in den sozialistischen Ländern.

Gegenüber den sozialistischen Ländern fand ebenfalls eine Umkehrung der bisherigen Politik statt. An die Stelle der Bemühungen um die Wahrung der Einheit auf der Grundlage der Prinzipien von Marx und Lenin trat eine Politik der Duldung, ja Forderung spalterischer, nationalistischer und revisionistischer Tendenzen in den Bruderparteien, kaschiert als “Kampf gegen Dogmatismus und Sektierertum”. Diese Umkehrung der bisherigen Politik führte in sehr kurzer Zeit zur Sprengung der Einheit des sozialistischen Lagers und der kommunistischen Weltbewegung und zu deren immer sichtbarer werdendem Niedergang. Parteien wie die KP Chinas und die Partei der Arbeit Albaniens, die Kritik an der neuen Linie der KPdSU zur Aussöhnung mit dem Imperialismus übten, wurden nun mit der gleichen Unversöhnlichkeit bekämpft, mit der in der ersten Hauptperiode der Klassengegner bekämpft worden war. Ihren Höhepunkt fand diese Linie der Anbiederung an den Imperialismus bei gleichzeitigem unversöhnlichen, ja hasserfüllten Kampf gegen die eigene Vergangenheit in der Ära Gorbatschow, und sie mündete, wie gar nicht anders möglich und – nach Gorbatschows eigenen Aussagen in verschiedenen Interviews – auch gewollt, in den Untergang der Sowjetmacht und der europäischen sozialistischen Staaten.

Für alle Leser, denen diese Ausführungen zu einseitig sein sollten: ich beschränke mich aus Platzgründen in meiner Zuschrift auf die von Ernst Hoffmann in den Mittelpunkt seines Aufsatzes gestellten Thesen, die Periodisierung der sowjetischen Außenpolitik und die außenpolitische Linie des 18. Parteitages der KPdSU betreffend.


Erschienen in “Icarus – Zeitschrift für soziale Theorie und Menschenrechte” 4/96, S. 44-46